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Lessings »Nathan der Weise« als Grundlage einer Friedenserziehung heute

Von Karl-Josef Kuschel.


1. NATHANS TOD

Im November 1991 wurde das Stueck "Nathans Tod" von George Tabori uraufgefuehrt - so recht ein Stueck, dass sich angesichts der Ereignisse vom 11. September 2001 in Washington und New York in Erinnerung gerufen werden muss, wenn wir heute noch von Lessing reden. Vom urspruenglichen "Nathan" Lessings hatte George Tabori zwar noch 90 Prozent des Textes uebrig gelassen. Aber was der Zuschauer sieht, ist eine bewusste "Uebermalung" mit vorsaetzlicher Zerstoerung der inhaltlichen Programmatik. Schon der Titel sollte die radikale Gegenthese signalisieren: Lessings Jude Nathan - er ueberlebt so wenig, wie die meisten europaeischen Juden ueberlebt haben, die unter die Deutschen geraten waren. Aus der Perspektive von Auschwitz kann nur festgestellt werden: Die von Lessing entworfene Utopie ist zerstoert. Das klassische Stueck ist zu einer Ruine geworden: abgebrannt, verkohlt, verstuemmelt. George Tabori, dieser 1914 in Budapest geborene Autor juedischer Provenienz, der selber seinen Vater und viele seiner Familienmitglieder in Auschwitz verlor und dessen dramatisches Schaffen unloesbar mit dem Thema "Shoa" verbunden ist, hat einen Anti-Nathan geschrieben - in Reaktion auf schwaerzeste Erfahrungen der Geschichte.

Auf einem Torso von sieben Szenen ist das klassische Stueck zusammengebrochen, und von Anfang an steht es im Zeichen von Gewalt und Feuer. Die Tempelherren verwuesten Jerusalem, auf Nathan wird ein Uberfall veruebt, und gleich in der ersten Szene fuehrt sich Taboris Nathan ein, indem er die Geschichte von einem Palast erzaehlt, in dem ein Feuer ausgebrochen war. Niemand war imstande, diesen Brand zu loeschen, jeder war nur mit seinen eigenen Interessen beschaeftigt. Zum Glueck ist dies nur eine fiktive Geschichte. Aber aus der Fiktion wird im Verlaufe des Tabori-Stueckes Wirklichkeit. Die Herrscher des Landes (Sultan Saladin als oberster Muslim und der Patriarch als oberster Christ) haben sich gegen den Juden verschworen: der eine will an sein Geld, der andere an seinen Glauben. Eine Geschichte von ihm hoeren wollen sie nicht mehr. Als Nathan (der Vorlage gemaess) dem muslimischen Sultan Saladin seine Ring-Erzaehlung anbietet, winkt dieser bloss noch ab:

"Erlaubst du wohl dir
Ein Geschichtchen zu erzaehlen.
Die Geschichte von den drei Ringen? -
Ja
Nein
Schade"

In Taboris Stueck also will niemand mehr die Geschichte von der religioesen Toleranz hoeren, schon gar nicht die Herrschenden. Sie ist ohnehin zwecklos; die Geschichte hat sie laengst widerlegt. Und so hat es etwas Wahnsinniges, Irrwitziges, wenn Nathan bei Tabori sich die Ring-Parabel in dem Augenblick erzaehlt, in dem sein Haus brennt. Was in Lessings Stueck Voraussetzung seines Dramas war (der Brand seines frueheren Wohnhauses, in dem seine sieben Kinder verbrannten, oder der Brand seines jetzigen Wohnhauses, aus dem seine Tochter Recha gerettet wurde), ist bei Tabori der Tiefpunkt des ganzen Stuecks: Ein antijuedisches Pogrom steckt Nathans Haus in Brand; der Jude holt sein verbranntes Kind heraus und erzaehlt sich noch einmal monoman-monologisch die Geschichte von den Ringen, verzweifelt, wahnsinnig geworden, zerstoert an Leib und Seele.

Dieses Stueck will mehr sein als eine provokative Theaterinszenierung mit dem Ziel, das deutsche Publikum zu zwingen, "sein Lieblingsmaerchen als Horror-Story zu lesen". Es will mehr als raffinierte Textcollagen bieten, mehr als ein Theaterexperiment. Angesichts der geschichtlichen Erfahrung wird hier die grosse Utopie demontiert, die in der Aufklaerung noch moeglich war. Taboris Stueck ist ein einziger Hohn auf den Glauben daran, dass es religioese Toleranz und Koexistenz je geben koennte. Seine "Uebermalung" des Lessingschen Stuecks spiegelt denn auch seine Erfahrung von ueberall auf der Welt neu aufbrechenden Religions-, Rassen- und Nationalitaetskonflikten wider. Er selber hat diese Absage an die aufklaererische Utopie mit den Saetzen beschrieben: "Lessings Glaube, ein kluger, ein weiser Mann wie Nathan koenne einen mohammedanischen Sultan oder einen christlichen Tempelherrn durch vernuenftige Argumente veraendern, trifft nicht mehr. Das ist geschrieben vor Auschwitz, vor Freud" -und wir fuegen hinzu: vor dem 11. September 2001, dem Tag der "Wiederkehr des Menschenopfers", wie Hans Magnus Enzensberger formulierte.

Aber vielleicht sind es ja gerade die grossen Stoffe, die der Zerstoerung beduerfen, damit sie auferstehen koennen. Vielleicht sind es die grossen Visionen, die man als verratene erlebt haben muss, damit sie wieder neue Strahlkraft bekommen. Und gerade die grossen Visionen muessen noch einmal in ihrer inneren Konzeptionalitaet entfaltet werden, bevor man sie - vielleicht endgueltig - verwirft. Lessings Stueck "Nathan der Weise" gehoert zu diesen grossen, verratenen, geschundenen, missbrauchten Visionen.

Diese Vision ist nicht bloss identisch mit der vielzitierten Ring-Parabel und dem Spruch des Richters:

"Es eifre jeder seiner unbestochnen
Von Vorurteilen freien Liebe nach!
Es strebe von euch jeder um die Wette,
Die Kraft des Steins in seinem Ring' an Tag
Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut,
Mit herzlicher Vertraeglichkeit, mit Wohltun,
Mit innigster Ergebenheit in Gott
Zu Huelf'! Und wenn sich dann der Steine Kraefte
Bei euern Kindes-Kindeskindernl aeussern:
So lad' ich ueber tausend tausend Jahre
Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird
Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen,
Als ich; und sprechen. Geht!" (III/7)

Die Dinge liegen etwas komplexer, und ich moechte sie anhand von drei Stichworten erlaeutern, die mir fuer eine heutige Friedenserziehung unverzichtbar zu sein scheinen: gnadenhafte Verflochtenheit von Menschen; strategische Aufwertung des Verachteten; Wettstreit um das Gute.

2. JUDEN, CHRISTEN UND MUSLIME ALS SCHICKSALSGEMEINSCHAFT

Schon die Wahl von Zeit und Ort des "Nathan" ist Programm: Jerusalem waehrend eines Kreuzzugs. Es ist der dritte der Jahre 1189-1192. Die Muslime haben unter Sultan Saladin Jerusalem besetzt und mit ihrem christlichen Gegenspieler, dem englischen Koenig Richard Loewenherz, einen Waffenstillstand vereinbart. In diesen historischen Rahmen stellt Lessing seine ganz und gar ungewoehnliche fiktive Geschichte: Da begnadigt der Sultan waehrend des Waffenstillstands ausgerechnet einen jungen christlichen Ordensritter, im Stueck der "Tempelherr" genannt, weil dieser ihn an seinen Bruder erinnert. Und da rettet dieser Ordensritter, der, waehrend der in Jerusalem, noch betaeubt von so viel Gnade, orientierungslos herumlaeuft, aus einem brennenden Haus ein junges Maedchen. Er erfaehrt: Das Maedchen heisst Recha, und das Haus ist das des reichen juedischen Kaufmanns Nathan, der zur Zeit auf Geschaeftsreise ist. Doch zur Ueberraschung aller wehrt der junge Mann den faelligen Dank ab. Als er aber spaeter dann doch Recha gegenuebersteht (III/2), verliebt er sich sofort und will sie auf der Stelle heiraten (III/9). Nathan zoegert, und der junge Mann geraet ausser sich, zumal er durch die intrigante Daja erfaehrt, dass Recha gar nicht Nathans Kind, sondern ein "Christenkind" sei (III/10). Wutentbrannt laeuft er zum Patriarchen, dem obersten Christen in Jerusalem, um zu erkunden, was mit Juden geschieht, die Christenkinder von ihrem Glauben abbringen. Dessen gnadenlose Auskunft (auf den Scheiterhaufen mit ihnen!) stoesst ihn freilich so sehr ab, dass der Tempelherr den Fall nicht weiter enthuellt und zu Saladin geht.

Dieser hatte in der Zwischenzeit die Bekanntschaft des Juden Nathan gemacht. Denn Saladin ist in Geldverlegenheit, da seine Steuereinnahmen aus Aegypten seit Jahren ausbleiben. Seine Schwester Sittah, Partnerin und Beraterin an allen Fragen, muss ihm bereits finanziell aushelfen. Auf der Suche nach neuen Geldgebern hatte sie den Namen des reichen Juden Nathan ins Spiel gebracht, und Saladin hatte diesen vorladen lassen. Es kommt zu einer folgenreichen ersten Begegnung, die ueberraschenderweise in Freundschaft umschlaegt. Die ist denn auch bitter noetig, draengt sich doch aus der Tiefe der Zeit eine Wahrheit in den Vordergrund, welche die Personen bedrohlich gegeneinander aufhetzen koennte. Denn nachdem der Tempelherr aus Enttaeuschung ueber Nathan und aus Entsetzen ueber den Patriarchen zum Sultan gegangen war, wird ihm ein Geheimnis enthuellt, das ihn seine und die Geschichte aller andere Figuren voellig neu sehen laesst.

Dieses neue Sehen, dieses Offenbarwerden unerwarteter Zusammenhaenge, macht nicht nur die Spannung des Stueckes aus; es ist auch von entscheidender Bedeutung fuer Lessings Konzeption der Zusammengehoerigkeit der Religionen. Deshalb ist die Enthuellung der hintergruendigen Familiengeschichte von strategischer Bedeutung. Was konkret heisst: Der Tempelherr glaubt nur, sein Name sei Curd von Stauffen, doch in Wirklichkeit heisst er Leu von Filnek und ist der Sohn eines gewissen Wolf von Filnek. Hinter diesem Namen aber verbirgt sich niemand anderer als ein juengerer Bruder Saladins, Assad (arab.: "Loewe"), der - 18 Jahre ist es her - bei einer Schlacht um die Stadt Askalon gefallen war. Vorher war er noch in Europa gewesen und hatte mit einer Christin aus der deutsch-schwaebischen Familie derer von Stauffen zwei Kinder gezeugt: einen Jungen und ein Maedchen. Nach dem.Tod beider Eltern waechst der Junge in Schwaben bei der Familie von Stauffen heran und erhaelt den Namen Curd. Und das Maedchen?

Ach bei Recha dasselbe Spiel. Vordergruendig ist sie die Tochter Nathans, eine Juedin, in juedischer Tradition erzogen. Hintergruendig ist sie das zweite Kind aus der muslimisch-christlichen Verbindung Wolfs mit einer von Stauffen. Als getaufte Christin hiess sie urspruenglich einmal Blanda von Filnek und ist damit die Schwester des Tempelherrn. Zu Nathan gekommen ist sie durch einen Klosterbruder, dem wir ebenfalls im Stueck wiederbegegnen und bei dem sich die gleiche Struktur wiederholt. Denn dieser Bruder Bonafides ist vordergruendig lediglich ein Bote des obersten Christen, des Patriarchen. Aber aus dem Hintergrund wird bekannt, dass er 18 Jahre zuvor Reitknecht bei Wolf von Filnek gewesen war, dessen "Brevier" er retten konnte, in das Wolf seine und seiner Frau Familiengeschichte eingetragen hatte. In den Haenden Nathans liefert dieses Buch die noetige Aufklaerung der familiaeren Verknotungen. Nathan und der Klosterbruder kennen einander, denn dieser hatte jenem seinerzeit die junge Recha gebrach, da Nathan mit Wolf von Filnek befreundet war. Waehrend der Junge also bei der Familie der Mutter in Deutschland aufwaechst, wird das kleine Maedchen bei Nathan erzogen.

Auch fuer ihn, Nathan, gilt dieselbe Struktur: Vordergruendig scheint er ein innerlich abgeklaerter, jeder Situation gewachsener, souveraen-erfolgreicher Geschaeftsmann. Hintergruendig aber ist Nathan ein zutiefst verletzter, traumatisierter Mensch. Vor 18 Jahre naemlich hatten Christen in der Stadt Gath "alle Juden mit Weib und Kind ermordet", darunter Nathans Frau und seine sieben Soehne im Kindesalter; sie waren im Hause seines Bruders verbrannt (IV/7). Drei Tage und Naechte hatte Nathan "in Asch' und Staub vor Gott gelegen und geweint", hatte mit Gott "gerechtet, gezuernt, getobt "‚ hatte sich und die Welt verwuenscht". Und vor allem: Er hatte "der Christenheit den unversoehnlichsten Hass zugeschworen". Da war der nachmalige Klosterbruder in sein Haus gekommen und hatte ihm die kleine Recha anvertraut. Und an dieser seiner Recha haengt Nathans ganzes Herz. Seine groesste Angst ist der nochmalige Verlust eines geliebten Kindes durch ein Feuer ...

Die auf den ersten Blick verwirrende Hintergrundsgeschichte des "Nathan" muss bis ins einzelne rekonstruiert werden, damit wir die entscheidende Pointe entdecken. Wer "Nathan" gesehen hat, sollte gelernt haben: Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick erscheint; erst der Tiefenblick in die Hintergruende macht Zusammenhaenge sichtbar. Was auf den ersten Blick getrennten Welten anzugehoeren scheint, gehoert in Wirklichkeit auf eine wundersam gefuegte Weise zusammen. Das aber ist alles andere als aufklaererisch-naiv. Das ist der Lessingsche Gegenentwurf gegenueber der bisherigen religioes inspirierten Gewaltgeschichte zwischen den Religionen.

Lessing wusste, was er tat. Bis dahin war es in der europaeischen Literatur - von Torquato Tasso bis Voltaire - immer nur gewalttaetig zugegangen, blutig, fanatisch, wenn es um Christen und Muslime ging. Die Maertyrer- und Opfertod-Dramen beherrschten die Buehne. Der normale Gang der Dinge geht ja auch nicht so - Lessing weiss das: da findet keine Rettung in letzter Minute statt; da entdeckt der Henker nicht auf dem Gesicht des Opfers die Aehnlichkeit mit seinesgleichen; da kommt nicht rechtzeitig ein just begnadeter Tempelherr vorbei, um ein Maedchen aus den Flammen zu retten; da heisst der Sultan nicht Saladin und der Jude nicht Nathan. Aber Lessing mutet seinen Figuren keinen Opfergang mehr zu, noch treibt er sie zum Martyrium oder in die Tragoedie. Im Gegenteil. Lessing entscheidet sich bewusst fuer den gluecklichen Ausgang seiner Geschichte, um auf diese Weise an ihr etwas Zukuenftiges zu zeigen. Er braucht die Nicht-Tragoedie - im Bewusstsein aller Tragoedien des Lebens. Er braucht das Untragische in Sachen Religion, weil er einen Kontrapunkt setzen, eine Gegenkonzeption liefern will. Er will eine Geschichte erzaehlen gegen den Tod und gegen das Blut, das der religioese Fanatismus Jahrhundert fuer Jahrhundert fordert.

Gegen diese Geschichte des Scheiterns setzt Lessing mit "Nathan" seinen Kontrapunkt: Juden, Christen und Muslime schienen nur auf den ersten Blick separaten, ja antagonistischen Welten anzugehoeren. Es ist an der Zeit, dass sie etwas anderes entdecken: dass sie naemlich einer urspruengliche Einheit angehoeren und so eine Schicksalsgemeinschaft bilden, in der alle auf gnadenhafte Weise zu gegenseitigem Wohl zueinander gefuegt und gefuehrt sind. Das sollen wir als Zuschauer im Verlauf der Geschichte begreifen lernen:

Beispiel Tempelherr: Aufgewachsen ist er als Christ; militant kaempft er als junger Mann fuer "seinen Gott". Aber zugleich steckt in ihm muslimisches Erbe; einem Musljm verdankt er sein Leben, und in eine "Juedin" ist er unsterblich verliebt. Der vermeintliche Christ und Judenhasser? Er ist in Wirklichkeit ein ueber die "fromme Raserei" empoerter Mensch, von der familiaeren Wurzel her zur Haelfte Christ, zur Haelfte Muslim. Klar soll werden: Er ist Teil der juedisch-christlich-muslimischen Schicksalsgemeinschaft; sein Glueck findet er nur noch im Miteinander, nicht mehr im Gegeneinander von Juden und Muslimen.

Beispiel Recha: Getauft ist sie als Christin, aufgewachsen als Juedin, einem Juden verdankt sie alles, was sie geworden ist. Zugleich steckt vaeterlicherseits muslimisches Erbe in ihr, wird sie durch einen Christen vor dem sicheren Flammentod bewahrt. Und in diesen Christen verliebt sie sich obendrein. Auch sie ist damit Teil dieser juedisch-christlich-muslimischen Schicksalsgemeinschaft. Dass sie ueberhaupt lebt, dann ueberlebt und schliesslich weiterlebt, verdankt sie einem Muslimen, einem Juden und einem Christen. Und da ein Muslim ihr leiblicher Erzeuger, eine Christin ihre leibliche Mutter, ein Jude ihr geistiger Vater ist, ist sie wie keine andere Figur im Stueck mit den Anteilen aller Religionen ausgestattet.

Beispiel Saladin, Sittah, Assad. Souveraen scheinen Saladin und Sittah als muslimische Herrscher ueber allen Parteien zu stehen, von niemandem abhaengig und betroffen. Aber: Ein Christ wird durch Saladin begnadigt, und seine Familie haette er am liebsten mit einer von ihm sehr bewunderten christlichen Herrscherfamilie verbunden: seine Schwester Sittah mit einem Bruder des englischen Koenigs und Kreuzzugsgegners Richard Loewenherz und seinen Bruder Melek mit dessen Schwester (II/1). Und was im Fall von Melek und Sittah ein "schoener Traum" blieb, hat Bruder Assad ohne Saladins Wissen - bereits erreicht: eine muslimisch-christliche Familienverbindung. Gerade Assad, der Bruder, ist bereits ein Wanderer zwischen den Welten, stellt er doch nicht nur Verbindungen zu Christen, sondern auch zu Juden her, wie wir von Nathan hoeren werden. Aber auch fuer Saladin gilt: Dass er seine finanziellen Engpaesse ueberwinden kann, bevor seine aegyptischen Steuereinnahmen tatsaechlich eintreffen (V/I), verdankt er einem Juden, dem er dann auch Freundschaft anbietet. Woraus folgt: Auch die Muslime sind familiaer und freundschaftlich eingebunden in dieselbe Schicksalsgemeinschaft.

Beispiel schliesslich Nathan: Er ist Jude von Geburt und Tradition, der besten einer. Doch in Unglueck (Pogrom) und Glueck (Rettung Rechas) ist sein Schicksal mit dem von Christen verflochten. Mit Muslimen wie dem Derwisch Al-Hafi verbindet ihn Schachpartnerschaft und grosse Zuneigung; mit Saladin spaeter Freundschaft und Geschaeft, je einem Muslim, Saladins Bruder Assad, verdankt Nathan nach eigenen Angaben mehr als einmal sein Leben (IV/7). Und was die Christen angeht: Niemand steht ihm naeher als der Klosterbruder, fuer dessen "fromme Einfalt" Nathan so viel Sympathie empfindet, dass er diesem Christen als einzigem unter Traenen sein persoenliches Schicksal enthuellt.

"Ihr, guter Bruder, muesst mein Fuersprach sein,
Wenn Hass und Gleissnerei sich gegen mich
Erheben sollten, - wegen einer Tat -
Ah, wegen einer Tat! - Nur Ihr, Ihr sollt
Sie wissen! - Nehmt sie aber mit ins Grab!
Noch hat mich nie die Eitelkeit versucht,
Sie jemand andern zu erzaehlen. Euch
Allein erzaehl' ich sie. Weil die allein
Versteht, was sich der gottergebne Mensch
Fuer Taten abgewinnen kann." (IV/7)

Ausserhalb diese Schicksalsgemeinschaft steht nur ein einziger in diesem Stueck: der oberste Christ in Jerusalem, der Patriarch. Er aber hat sich als Verkoerperung eines gewalttaetigen religioesen Fanatismus, als "Todfeind jeglicher Gespraechskultur" selbst "ausserhalb jedes Humanitaet stiftenden Kommunikationszusammenhangs" gestellt. Zwei Szenen charakterisieren ihn:

- Kaum hatte sich die Nachricht von des Tempelherrn wundersamer Begnadigung durch Saladin herumgesprochen, schickt der Patriarch den Klosterbruder' um den Tempelherrn als Spion, ja als Attentaeter gegen Saladin zu gewinnen. Die Vertrauensstellung eines Christen beim muslimischen Herrscher koennte fuer die "christliche" Sache militaerisch von Nutzen sein. Der Tempelherr lehnt empoert ab (I/5).

- Als der Patriarch durch den Tempelherrn hypothetisch den Fall eines Juden, der ein Christenkind aufzieht, vorgetragen bekommt, reagiert er gnadenlos. Unbekuemmert um den konkreten Einzelfall und die genauen Umstaende dekrediert er dreimal schneidend: "Tut nichts! der Jude wird verbrannt!" (IV/2).

Gegen diese Form unbarmherzigen religioesen Fanatismus schreibt dieses Stueck an. Der gnadenlosen Rechthaberei, welche die eine Religion von der anderen isoliert und die Menschen miteinander entzweit, stellt Lessing mit~ seinem "Nathan" den Glauben an die gnadenhafte Fuegung gegenueber, die Menschen zusammenbringt und gegenseitig zu Verdankten und Dankenden macht. Zwischen dem Gnaden- und dem Toleranzverstaendnis also besteht bei Lessing ein innerer Zusammenhang. Ja, Lessings "Nathan" versteht man nur, wenn man beides sieht: den "normalen" Wahnsinn der Religionstragoedien und den in diesen Kontext hineingestellten Gegenentwurf. Hier wollte der Dramatiker bewusst ein antitragisches Stueck schreiben - im Bewusstsein aller Tragoedien des Lebens. Und gegen dieses Denken, das die Lebenstragoedien erzeugt, gegen dieses Denken der Ausgrenzung und Abgrenzung wagt Lessing in Sachen Theologie der Religionen vernetztes Denken, Beziehungsdenken. Gegen die Selbstisolation einer Religion gegenueber anderen wagt er es, die Verbindung aller miteinander herauszustellen. Gegen die Ueberhebung einer Religion ueber andere zeigt er die Abhaengigkeit aller glaeubigen Menschen voneinander zu gegenseitigem Wohl - als glueckhafte Fuehrung und Fuegung.

Lessings "Nathan" ist somit auch ein Modell der Ueberwindung des engen Denkens in Blutsverwandtschaften, zeigt doch sein Stueck geradezu programmatisch, dass es neben Blutsverwandtschaft (Saladin - Sittah - Curd - Recha) auch noch andere Beziehungen des Miteinander geben kann und soll: freiwillige Adoption (Nathan - Recha) und sympathische Freundschaft (Nathan - Al Hafi; Nathan - Klosterbruder). Zur Lessingschen Familie gehoert man also gerade nicht bloss durch altes Blut, sondern vor allem durch einen neuen Geist. Mit der Metapher "Familie" ist ein doppelter Gedanke fruchtbar gemacht:

- der Grundgedanke der urspruenglichen Einheit vor aller Zersplitterung und damit religionstheologisch der Gedanke der Einheit der Menschheit vor allem Auseinanderfallen in und durch die Religionen.

- der Grundgedanke der Verwiesenheit aufeinander, der Abhaengigkeit voneinander, Zuneigung fuereinander und Solidaritaet miteinander. Lessing ist einer der ersten europaeischen Intellektuellen ueberhaupt, der eine Religionstheologie von Judentum, Christentum und Islam in Kategorien struktureller Verflochtenheit, gegenseitiger Verwiesenheit und solidarischem Miteinander von Menschen denkt und gleichnishaft gestaltet.

3. STRATEGISCHE AUFWERTUNG DES VERACHTETEN

Vergegenwaertigt man sich die innere Gewichtung der Figuren im Stueck, spricht vieles fuer die Grundthese: Das Drama vollzieht - in radikaler Kritik am gesellschaftlichen und kirchlichen Antijudaismus - eine strategische Aufwertung eines Juden als "edlen Helden" und damit des juedischen Humanismus als einer legitimen religioesen Grundoption. Das Drama vollzieht aber auch eine nicht minder ueberraschende strategische Aufwertung von Muslimen und damit des islamischen Humanismus als religioeser Grundhaltung.

"Kalkulierte" oder "strategische Aufwertung" ist das Gegenteil einer naiven Idealisierung, die auf geschichtlicher Ahnungslosigkeit, sachlicher Inkompetenz und mangelndem komplexen Denken beruht. "Strategische Aufwertung" heisst bei Lessing dies:

- Es werden - im Kontrastbild - die positiven Seiten von Personen, Religionen und Kulturen herausgestellt, ohne damit zu leugnen, dass es jeweils ueberall auch Negatives und Verabscheuungswuerdiges gibt. Strategische Aufwertung ist das Gegenteil von Idealisierung.

- Das Positivbild ist eine bewusste, kalkulierte Auswahl, und diese Auswahl ist kontextbedingt. Eine Wirklichkeit soll zum Leuchten kommen, die im gesellschaftlichen Umfeld weitgehend ausgeblendet wird. Strategische Aufwertung ist daher das Gegenteil von naiver Idealisierung; sie ist eine bewusst vollzogene, kontextabhaengige Positivzeichnung negativ besetzter Wirklichkeiten.

- Aufwertung ist nicht gleich Identifikation. Wer Personen, Religionen oder Kulturen strategisch positiv zeichnet, wird damit nicht automatisch zum Anhaenger oder Bekenner dieser Personen, Religionen oder Kulturen. Der bekaempft vor allem jeden Reduktionismus und jegliche Stereotypisierung im Interesse einer hoeheren Komplexitaet. Strategische Aufwertung zielt also nicht auf Identifikation, sondern auf Gerechtigkeit im Urteil gegenueber anderen.

Anders gesagt: Wer Personen, Religionen oder Kulturen strategisch aufwertet, muss nicht alle Dimensionen dieser Phaenomene praesentieren. Er muss nicht - bezogen auf unseren Fall - den ganzen Islam behandeln, alle Bereiche und Komplexe. Er muss sich nicht zum Islam bekennen. Der will in einem Negativ-Kontext durch bewusste Hervorhebung des Positiven kritisch wirken; will Stereotypen durchbrechen, Vorurteile ueberwinden, Gerechtigkeit im Urteil herstellen. Der sieht eine gaengige Praxis verurteilender Abqualifizierung und setzt ihr gezielt ein positives Bild gegenueber, nicht weil er die Wirklichkeit (hier des Islam) nur rosig oder ideal saehe und nicht wuesste, dass es Negatives, Missbraeuchliches, Inhumanes, Vernunftwidriges auch in dieser Religion gibt. Er tut dies, weil er in seinem Negativ-Kontext einen positiven Kontrapunkt erzwingen will. In diesem Sinne - kontextabhaengig und damit notwendig selektiv - praesentiert Lessing das Judentum - und dann auch den Islam. Nirgendwo vollzieht er eine Identifikation mit dem Islam als Religion, aber sein ganzes Werk hindurch streitet er fuer Komplexitaet im Denken und Gerechtigkeit im Urteil.

Gegen welchen Kontext Lessing anschreibt, macht seine geplante Vorrede zum "Nathan" ueberdeutlich:

"Wenn man sagen wird, dieses Stueck lehre, dass es nicht erst von gestern her unter allerlei Volke Leute gegeben, die sich ueber alle geoffenbarte Religion hinweggesetzt haetten, und doch gute Leute gewesen waeren; wenn man hinzufuegen wird, dass ganz sichtbar meine Absicht dahin gegangen sei, dergleichen Leute ii? einem weniger abscheulichen Lichte vorzustellen, als in welchem der christliche Poebel sie gemeiniglich erblickt: so werde ich nicht viel dagegen einzuwenden haben.

Denn beides kann auch ein Mensch lehren und zur Absicht haben wollen, der nicht jede geoffenbarte Religion, nicht jede ganz verwirft. Mich als einen solchen zu stellen, bin ich nicht verschlagen genug: doch dreist genug, mich als einen solchen nicht zu verstellen. - Wenn man aber sagen wird, dass ich wider die poetische Schicklichkeit gehandelt, und jenerlei Leute unter Juden und Muselmaennern wolle gefunden haben: so werde ich zu bedenken geben, dass Juden und Muselmaenner damals die einzigen Gelehrten waren; dass der Nachteil, welchen geoffenbarte Religionen dem menschlichen Geschlechte bringen, zu keiner Zeit einem vernuenftigen Manne muesse auffallender gewesen sein, als zu den Zeiten der Kreuzzuege, und dass es an Winken bei den Geschichtsschreibern nicht fehlt, ein solcher vernuenftiger Mann habe sich nun eben in einem Sultane gefunden."
(IX, 665f)

Das also ist der Kontext: Ein christlicher Poebel pflegt Menschen, die nicht in vertraute religioese Schemata passen, in "abscheulichem Licht" darzustellen. Wieviel wurde an Intoleranz, Ignoranz und Arroganz insbesondere gegenueber Juden und Muslime auch von Vertretern aus christlicher Theologie und Kirche produziert! Lessing dagegen betont strategisch die kulturellen Leistungen von Menschen anderer Religionen (immer wieder der Hinweis auf "Gelehrte"), die Gewissensfreiheit, die religioese und philosophische Tiefe. Und genauso strategisch verweist Lessing innerchristlich immer wieder auf die Kreuzzuege, die nun einmal ein Schandfleck in der Geschichte des Christentums sind. Er betont dies, nicht weil er Christentum damit identifiziert, sondern weil er Christen zur Demut und Bescheidenheit im Urteil ueber andere "erziehen" will. Ein Lernprozess soll in Gang kommen, gerade im Blick auf eine innereuropaeische Verachtungsgeschichte gegenueber Judentum und Islam.

Schon zu Lessings Zeiten war die Feindschaft gegen den Islam eine Konstante europaeischer Geschichte, vor allem seit dessen erfolgreicher Offensive im oestlichen Mittelmeerraum, der zur Zerstoerung des christlichen Byzanz, der Eroberung des Balkans und zur zeitweiligen Seeherrschaft im Mittelmeer fuehrte. 1683 standen die muslimischen Tuerken vor Wien - nicht zum ersten Mal -‚ und blutruenstige, angsterregende Muselmanen waren ein kulturelles Klischee. Lessings "Nathan" ist - aehnlich wie 1783 Mozarts "Entfuehrung aus dem Serail" - das Zeugnis einer Wende, die gewiss auch auf das Nachlassen der Tuerkengefahr im 18. Jahrhundert zurueckgeht. Lessing steht also mit seiner historischen Sicht in der Tradition eines Jahrhunderts, das dem "Morgenland" erhoehte Aufmerksamkeit schenkt und in der islamischen Welt Werte zu erblicken bereit ist, die dem "Abendland" in kulturkritischer Sicht als moralischer Spiegel vorgehalten werden koennen.

4. VOM STREIT ZUM WETTSTREIT DER RELIGIONEN

In Lessings Ring-Parabel geht es bekanntlich um einen Vater von drei Soehnen, der einen kostbaren Ring besitzt. Dessen Wert besteht darin, dass der Stein im Ring, ein Opal, die "geheime Kraft" besitzt, "vor Gott und Menschen angenehm zu machen". Und dies gerade nicht automatisch-magisch, sondern nur fuer den, der in der "Zuversicht" dieser Kraft den Ring traegt. Bisher wurde der Ring vom jeweiligen Vater dem liebsten (nicht aeltesten!) Sohn uebergeben, wodurch dieser dann "das Haupt, der Fuerst des Hauses" wurde. Bei Lessing aber wird das alles in dem Moment anders, in dem ein Vater drei Soehne hat und alle drei gleichermassen liebt, so dass er keinen bei der Erbfolge bevorzugen will. Dieser Vater entschliesst sich, nach dem Muster des Originalrings zwei "vollkommen gleiche" Ringe anfertigen zu lassen mit dem Resultat, dass er selber die Ringe jetzt nicht mehr unterscheiden kann; er uebergibt jedem der Soehne - getrennt - einen Ring - und stirbt.

Damit hat Lessing folgendes erreicht:

(1) War frueher die Unterscheidbarkeit zwischen den Soehnen (im Sinne der Vorrangstellung und Erwaehlung eines Sohnes) Wille des Vaters, so ist es jetzt die Ununterscheidbarkeit im Sinne der Gleichrangigkeit und Gleichwertigkeit der Soehne. Uebertragen heisst das: War frueher eine Rangfolge zwischen den Religionen im Sinne einer besonderen Erwaehlung Wille Gottes, so ist es jetzt die Gleichrangigkeit und Gleichwertigkeit der Religionen Judentum, Christentum und Islam. Gott selber will diese Religionen so, dass sie weder durch ihn selbst noch gar durch Menschen unterschieden werden koennen.

(2) Fuer Lessings Gottesverstaendnis zentral ist dabei das Moment der Liebe als tiefste Begruendung der Gleichrangigkeit der Religionen. Gott entscheidet nicht irgendwann in der Zukunft, ob er die Menschen aller Religionen liebt; er hat sich schon dafuer entschieden. Damit ist nicht gesagt, dass Lessings Nathan die konkreten aeusseren Unterschiede, ja die tiefgreifenden inhaltlichen Differenzen zwischen den Religionen leugnete. Dies anzunehmen, hiesse Nathan (bzw. Lessing) religionsgeschichtliche Ahnungslosigkeit unterstellen. Gemeint ist, dass Gott selbst eine Rangfolge unter den verschiedenen und verschieden bleibenden Religionen aufheben wollte; sie sind wie die Ringe ununterscheidbar in dem Sinne, dass es von Gott her keine Wahrheitshierarchie mehr zwischen ihnen gibt. Und da die Religionen selbst fuer Gott ununterscheidbar sind, ist eine Berufung auf den "Vater" kuenftig sinnlos.

Genau diese Berufung hatte Lessing vor allem im "Fragmentenstreit" erlebt. Ungezaehlte Male hatten sich seine "orthodoxen" Gegner auf Gott selbst fuer den Absolutheitsanspruch "ihres" Christentums berufen. Ungezaehlte Male hatten sie sich fuer den goettlichen Ursprung des Christentums auf die Einloesung goettlicher Prophezeiungen und auf Wunder Gottes berufen. Mit seiner Parabel unterlaeuft Lessing genau dieses Argumentationsmuster: Niemand kann und darf sich laenger auf Gott berufen und damit seine Vorzugsstellung als die liebste und beste Religion begruenden. Gott selbst wollte die Pluralitaet der Religionen, nicht die "Tyrannei" einer als der exklusiv wahren.

Was aber auf der Ebene Gottes gilt, soll offensichtlich auch auf der Ebene des Menschen gelten: Geltenlassen der Unterschiede unter den Religionen im Geiste der Liebe. Dass sich goettliche und menschliche Ebene entsprechen sollen, wird im Stein des Rings zum Ausdruck gebracht. Dass der Stein die Wunderkraft hat, "vor Gott und Menschen angenehm zu machen", ist ja nicht magisch misszuverstehen. Er hat diese Kraft nicht als Stein. Er hat sie, weil sich durch ihn die universale Liebe Gottes auswirkt und weil sich Menschen von dieser Kraft bestimmen lassen. Woraus folgt: Nur durch die menschliche Praxis der goettlichen Liebe kann man dem Abgrund an moeglichem Verrat begegnen. Gewiss: Durch diese Praxis verschwindet dieser Abgrund nicht. Man kann ihn nicht einfach weglieben. Denn auch die Liebe kann ja auf Taeuschung beruhen. Aber die Liebe rettet vor der Verzweiflung und der Laehmung. Sie eroeffnet eine Lebensperspektive; sie stiftet Praxis, die einen Wert in sich hat. Ob von Gott betrogen oder nicht, die Liebe allein zaehlt.

In Uebertragung auf die drei Religionen Judentum, Christentum und Islam heisst das: Aus theologischen wie anthropologischen Gruenden kann es keine Ueber- und Unterordnung mehr zwischen den Religionen geben. Die traditionellen Kriterien einer Scheidung in wahre und falsche Gotteskinder ist aufgehoben: Wahrheit und Falschheit bemisst sich jetzt nach dem neuen Kriterium des Miteinanders und Fuereinanders vor Gott im Geist der Liebe. Was auf der Ebene der Spielhandlung inhaltlich ausgesagt wird (Juden, Christen und Muslime bilden eine Schicksalsgemeinschaft, in der alle in ihrem Glueck voneinander abhaengen), wird so auch durch die Ringparabel vertieft: Da alle Kinder des einen Vaters sind, gleich geliebt, gleich behandelt, sollten alle sich auch als geschwisterliche Erben begreifen, die untereinander nicht wieder Unterscheidungen (Rangfolgen, Vorrangstellungen) einfuehren, die Gott, der Vater, gerade beseitigt haben wollte.

Mehr noch: Durch die Tatsache, dass der echte Ring "vor Gott und Menschen angenehm" machen kann, ist ein Moment des Wettbewerbs in die Erbengemeinschaft eingebracht. Denn ob jemand den echten Ring hat, entscheidet nicht mehr formal die Uebergabe durch den Vater (die jeder der Soehne sogar nachweisen kann), sondern allein die Praxis im Geist der "von Vorurteilen freien Liebe". Hier duerfte die Erklaerung dafuer liegen, warum in Lessings Parabel der Vater seine Soehne auf dem Sterbebett nicht von seinen Massnahmen direkt unterrichtet. Denn haette der Vater den Soehnen autoritativ mitgeteilt, dass von jetzt an nur noch die Gleichrangigkeit gilt und dass die Abschaffung jeder Rangfolge seinem Willen entspricht, haette er das Motiv des Wettbewerbs aus der Erbengemeinschaft genommen. Er haette einer flachen Nivellierung Vorschub geleistet. Jetzt aber muss jeder glauben, den echten Ring zu haben. Und nur durch diesen Glauben kann ja die "Kraft des Steins" zur Wirksamkeit kommen. Nur im Wettstreit um das Gute, nicht mehr im Streit wird man vor Gott und Menschen angenehm. Die Erben, sprich Juden, Christen und Muslime, sollen sich in nichts anderem uebertreffen als in vorurteilsfreier Liebe, in Sanftmut, herzlicher Vertraeglichkeit, Wohltun und innigster Gottergebenheit. Der "Betrug" des Vaters entsprang also keiner Boesartigkeit, sondern einer Lebensweisheit, entsprang letztlich demselben Grund, mit der er die Rangfolgen beseitigen wollte: der Liebe.

Damit laesst sich die Religionstheologie der Ringparabel so zusammenfassen:

(1) Nicht propagiert wird die Ueberwindung aller konkreten Religionen zugunsten einer religionsfreien Humanitaet; nicht propagiert wird die Aufhebung der Religionen zugunsten reiner Menschlichkeit. Zu Recht hat der katholische Theologe Hans Kueng in seinem Lessing-Essay (1985) betont: "Lessing sieht die grossen Religionen nicht, wie Reimarus aus vulgaeraufklaererischer Sicht, als abzulegende, vorlaeufige Huellen einer reinen Vernunft- oder Naturreligion; er denkt nicht unhistorisch, will die geschichtlich gewachsenen Religionen nicht einfach zugunsten einer rein vernuenftigen Universalreligion abschaffen ... Nein, Lessing will auch das Christentum trotz aller historischen Schwierigkeiten nicht wie eine alte Haut abstreifen; er will es neu interpretieren und von innen her kuehn nach vorne transponieren." Darin besteht ja gerade die Logik des anthropozentrischen Arguments, von dem wir in der Ringparabel gehoert haben: "Wie kann ich meinen Vaetern weniger / Als du den deinen glauben? oder umgekehrt." Hier wird ja die Loyalitaet gegenueber gewachsenen Bindungen, der Respekt vor gegebenen Traditionen zum Toleranzargument. Die Duldung der anderen wird also gerade nicht gekoppelt mit der Forderung nach Selbstaufgabe der je eigenen Familie. Toleranz entsteht somit nicht erst jenseits der Religionen, sondern in und durch die Religionen, wenn sie der Verheissung wuerdig leben.

(2) Nicht propagiert wird eine Indifferenz gegenueber allen Religionen, Toleranz als Ergebnis einer Vergleichgueltigung der Wahrheitsfrage. Lessing hat diese Indifferenz durch Hinzufuegen des Motivs der "Wunderkraft" im Stein des Rings und des Wettbewerbs zwischen den Erben ueberwunden. Wahrheit einer Religion steht bei ihm (im Unterschied zu aller Orthodoxie) weder objektiv offenbarungstheologisch fest, noch bleibt sie neutralisiert in einem vergleichgueltigenden Indifferentismus. Wahrheit objektiviert sich fuer Lessing als Praxis der Liebe. Wo geliebt wird, da ist wahre Religion. "Wahrheit" ist nach dieser Konzeption weder exklusiver Besitz einzelner noch eine Sache beliebiger Offenheit, sondern Aufgabe fuer alle. Die Wahrheit muss und kann durch Menschen auch aus den Religionen in alltaeglicher Praxis je neu bewahrheitet werden. Zugleich wird als "heilsgeschichtliche" Zielperspektive offengelassen: Wenn in Generationen, wenn in "ueber tausend tausend Jahren", die Kraft des echten Rings sich positiv ausgewirkt haben wird, dann kann vielleicht ein Richter entscheiden, bei wem sich der echte Ring bewahrt hat.

5. GLAUBE AN DIE ALLTAEGLICHKEIT DES WUNDERBAREN

Es ist nun an der Zeit, Perspektiven nach vorn zu riskieren. Wir haben schon davon gesprochen, dass der Schluss des "Nathan" maerchenhaft-wunderbar klingt. Auch dies ist konzeptionelle Absicht. Denn dieser Schluss erweist sich als Konkretion dessen, was in der allerersten Szene schon angedeutet wurde - im Gespraech Dajas mit dem heimkehrenden Nathan. Als Nathan von Rechas Vorstellungen hoert, ein Engel muesse sie gerettet haben, und darueber laechelt, weist Daja ihn darauf hin:

"Laechelt nicht! - Wer weiss?
Lasst laechelnd wenigstens ihr einen Wahn, In dem sich Jud' und Christ und Muselmann
Vereinigen; - so einen suessen Wahn!" (I/1)

Diesen "suessen Wahn" stellt das Stueck uns vor Augen: die Utopie einer "Vereinigung", d.h. eines versoehnten Neben- und Miteinander von Juden, Christen und Muslimen. Vom Streit zum Wettstreit der Religionen - das war die Devise. Machen wir uns noch einmal klar, was Lessing uns Zuhoerern/Lesern an Glauben zumutet:

(1) Ueber die Kontinente verstreute, durch unterschiedliche Religionen getrennte, durch die Macht ihrer jeweiligen Traditionen gespaltene Menschen erkennen sich als Angehoerige einer Familie wieder, einer Familie des Blutes und des Geistes.

(2) Angesichts eines jederzeit wieder aufflackernden Kriegs zwischen Christen und Muslimen im Jerusalem der Kreuzzugszeit, angesichts der jederzeit wieder moeglichen Pogrome von Christen an Juden, angesichts also einer aeusserst fragilen militaerischen und religionspolitischen Situation, bei welcher der auf Waffenstillstand beruhende Friede jederzeit wieder umschlagen kann in Gewalt und Blutvergiessen, in der Atempause des Todes also, wagt Lessing eine Gruppe von Juden, Christen und Muslimen vor Augen zu stellen, die faehig sind, sich gegenseitig in die Arme zu fallen.

Den "Nathan" versteht man somit nur, wenn man beides sieht: den Kontext der Religionstragoedien und die in diesen Kontext hineingestellte Vision. Hier wollte de Dramatiker bewusst ein antitragisches Stueck schreiben - im Bewusstsein aller Tragoedien des Lebens, eine Geschichte gegen den Tod erzaehlen - im Horizont furchtbarer Katastrophen. Grosse Literatur entsteht nicht selten in Momenten der Bedrohung, als Widerstand gegen Blut und Tod. Kunst wird dann zur Ueberlebens-Kunst. Auch Lessings "Nathan" ist ein Stueck Angstbewaeltigung des Todestraumas: Menschen sollen fuer ihre Religion oder im Namen ihrer Religion nicht mehr leiden oder sterben.

Die Katastrophe des religioesen Mordwahns ist ja Teil von Nathans Geschichte. Und Lessing laesst ja keinen Zweifel, dass Nathan Opfer eines christlichen Pogroms geworden ist. Seine Frau und sieben Kinder waren ihm zum Opfer gefallen. Davon hatte Lessing seinen Nathan berichten lassen. Auch vom Weinen, vom Zuernen, vom Toben gegen Gott und vom Verwuenschen der Welt. Und doch auch von der Wiederkehr der Vernunft:

"Sie sprach mit sanfter Stimm: "Und doch ist Gott!
Doch war auch Gottes Ratschluss das! Wohlan!
Komm! uebe, was du laengst begriffen hast;
Was sicherlich zu ueben schwerer nicht
Als zu begreifen ist, wenn du nur willst
Steh auf! " - Ich stand! und rief zu Gott: ich will!
Willst du nur, dass ich will!" (IV/7)

Vernuenftige "Ergebenheit in Gott" aber ist Lessing auch die Basis seiner Hoffnung auf eine Verstaendigung gerade der abrahamischen Religionen. In dieser Theozentrik sah er das theologische und spirituelle Minimum, das als Basis fuer ein solidarisches Miteinander von Juden, Christen und Muslimen ausreichen muesste.

Auch fuer seinen "Nathan" vertraute Lessing darauf, dass das geschilderte "Wunder" eine erzieherische Kraft entwickeln wuerde. Wie sein Nathan hat auch er sich den Glauben daran bewahrt, dass die Wunder, die "wahren, echten Wunder alltaeglich werden koennen, werden sollen" (1/2). Zumindest auf der Spielebene des Stuecks ist denn auch dieses "Wunder" geschehen, wenn unter "stummer Wiederholung allseitiger Umarmungen" der Vorhang faellt. Ob aber auch dieses Wunder "alltaeglich" wird, haengt davon ab, ob Juden, Christen und Muslime sich herausfordern lassen, ob sie ihrerseits faehig sind wie der Lessingsche Tempelherr (III/8), im "gelobten Land" endlich einmal Frieden zu geloben und einzuhalten:

"Laechelt nicht! - Wer weiss?
Lasst laechelnd wenigstens ihr einen Wahn, In dem sich Jud' und Christ und Muselmann
Vereinigen; - so einen suessen Wahn!" (I/1)

"Er war ein vollendeter und vollendender Mensch des 18. Jahrhunderts, und er war ein ganzer Fremdling in dieser seiner Zeit", hat Karl Barth einmal ueber Lessing gesagt. Wir koennen diesen Satz heute mit noch groesserem Recht wiederholen, denn wir koennen erst jetzt voll begreifen: an dieser Fremdheit Lessings in Sachen Judentum, Christentum und Islam hat sich bis heute nichts geaendert. Und ich rufe noch einmal die Gegenerfahrung in Erinnerung, die der Dramatiker George Tabori in seinem Stueck "Nathans Tod" (1991) beschriebe hat. Die Vision der Ringparabel - zerfetzt durch die Geschichte, widerlegt durch Auschwitz. Und doch ist Lessings "dramatisches Gedicht" vom Wettstreit der Religionen um das Gute ein Programm geblieben, das allen Verrat ueberlebte und dessen Schaendung nicht das letzte Wort blieb. Lessings Entwurf kann auch heute noch Menschen ergreifen und zu versoehnter Verschiedenheit inspirieren - ob in Deutschland, Palaestina, New York, Washington oder anderswo.

Prof. Dr. Karl-Josef Kuschel lehrt Theologie der Kultur und des interreligioesen Dialogs an der Katholisch-Theologischen Fakultaet der Universitaet Tuebingen. Grundlage dieses Beitrags ist sein Buch: "Vom Streit zum Wettstreit der Religionen. Lessing und die Herausforderung des Islam", Duesseldorf (Patmos-Verlag) 1998

Veroeffentlicht mit Genehmigung von Prof. Kuschel an Schech Bashir.
Quelle:Karl-Josef Kuschel: Lessings »Nathan der Weise« als Grundlage einer Friedenserziehung heute. In: WCRP Informationen, Nr. 61, S. 4-17



Tariqah As-Safinah - 1423 / 2002