Tariqah
As-Safinah
Informationen zur Tariqah As-Safinah
Informationen zum Tasawwuf (Sufismus)  
Aus dem Archiv
Email an die Tariqah As-Safinah
Veranstaltungstermine der Tariqah As-Safinah
Links zu befreundeten Homepages

Startseite/Home der Tariqah As-Safinah
Aus dem Archiv


Abraham: Aufbrechen - Neues wagen
Zur Spiritualitaet interreligioeser Praxis

Von Karl-Josef Kuschel.


I

Die Luft vibriert gegenwaertig von negativen religioesen Energien, ausgeloest durch die grauenhaften Ereignisse des 11. September. Verbrecherische Terroristen missbrauchten eine Religion wie den Islam zur Legitimierung von Massen- und zur Glorifizierung von Selbstmord. Muslime ueberall auf der Welt sehen sich seither Angriffen wie nie zuvor ausgesetzt, einer Religion der Gewalt und der Feindvernichtung anzugehoeren. Der amerikanische Praesident sprach in einer ersten Reaktion vom "Kreuzzug" und musste anschliessend eine Moschee besuchen, um deutlich zu machen, dass Amerika keine Religion bekaempfe, sondern Terroristen. Premierminister Blair sprach von einem Kampf gegen "das Boese" und bediente sich apokalyptischer Deutungsschemata: entweder - oder, fuer uns - gegen uns, jetzt - nie. Selbst einem Philosophen wie Juergen Habermas war aufgefallen, dass die Bilder der Zerstoerung etwas "Apokalyptisches" haetten und die Sprache der Vergeltung einen "alttestamentarischen Klang". Woertlich in seiner Friedenspreis-Rede 2001 in der Frankfurter Paulskirche: "Als haette das verblendete Attentat im Innersten der saekularen Gesellschaft eine religioese Saite in Schwingung versetzt, fuellten sich ueberall die Synagogen, die Kirchen und Moscheen". In der Tat sind viele Menschen aufgewuehlt. Die islamische Welt ist in hoechstem Masse beunruhigt, die westliche Oeffentlichkeit ihrerseits von "Angst vor dem Islam" getrieben. Viele sprachen und sprechen vom Scheitern des Dialogs und sehen eine Bestaetigung der These vom "Kampf der Kulturen" als Szenario der Weltpolitik des 3. Jahrtausends.

So uebertrieben solche Reaktionen sein moegen, so scheint doch eines geboten: Gerade wird in Deutschland und Westeuropa werden um eine Neubewertung des Faktors Religion in der kuenftigen Weltgesellschaft nicht herumkommen. Religioese Energien sind eine Tatsache. Sie bestimmen uns mehr, als wir wahrhaben wollen, die wir im "aufgeklaerten" und angeblich "saekularisierten" Westen Religion auf eine geschichtlich beispiellose oeffentliche Schwundstufe haben herunterkommen lassen. In anderen Regionen der Welt aber spielt Religion eine Massen von Menschen ergreifende, treibende, identitaetsstiftende Rolle. Auf der religioesen Weltlandkarte nehmen wir in Westeuropa eher eine Randstellung ein. Was wir fuer "Fortschritt" von Aufgeklaertheit halten, haelt man in anderen Kontinenten fuer Verblendung, Ignoranz und Arroganz. Wer aber den religioesen Faktor bei sich ignoriert, hat auch keine Sensibilitaet fuer ihn in anderen Regionen der Erde.

Fuer diese Sensibilitaet aber ist es hoechste Zeit, damit die vorhandenen religioesen Energien nicht noch weiter ins Zerstoererische abgleiten, in Massen- und Selbsttoetung. Negativen religioesen Energien aber kann man nicht durch noch mehr "Aufklaerung" beikommen. Das imponiert Menschen wenig, die ihre Religion sogar dazu verwenden, Selbsttoetungshemmungen abzubauen, und anschliessend von fanatisierten Massen als Maertyrer gefeiert werden. Dagegen kann nur etwas wirksam werden, was in andere Tiefen reicht als westliche "Religionskritik". Es braucht die Mobilisierung positiver religioeser Energien, um die Daemonen zu bannen. Gegenzeichen gilt es zu setzen aus dem Geist der Verstaendigung und Versoehnung - trotz allem. Ein solcher Versuch, die Daemonen des 11. September zu bannen, war die Trauerfeier fuer die Opfer am 23. September im Yankee-Stadion zu New York. Vertreter aller Religionen sprachen bei diesem Anlass, einschliesslich des Islam, und brachten auf eindrucksvolle Weise ihre Trauer, ihre Aengste, ihren Willen zum Frieden, zur Zusammenarbeit und zur Versoehnung zum Ausdruck. Ein solcher Versuch, die Daemonen zu bannen, war auch das Gebetstreffen von Assisi, das am vergangenen Donnerstag (24.1.2002) auf Einladung des Papstes stattgefunden hat. Es brauchte offensichtlich den 11. September, um auch den Vatikan wieder zu Aktivitaeten zu veranlassen, die seit 1986 - dem ersten Gebetstreffen in Assisi - erlahmt und die durch Erklaerung "Dominus Jesus" ins Zwielicht geraten waren. Aber auch unser Versuch einer Gebetsstunde der Religionen fuer den Frieden, heute hier in Nuernberg, gehoert in diese Reihe: Gegenzeichen zu setzen, spirituelle Gegenenergien zu mobilisieren.

Dies alles ist undenkbar ohne Besinnung auf die Urkunden der grossen religioesen Traditionen. Einen solchen Urtext haben wir gerade gehoert: Abrahams Berufung. Und wenn wir ueber Abraham nachdenken als eine Figur aus der Hebraeischen Bibel, die fuer Christen und Muslime ebenfalls eine Schluesselbedeutung hat, dann nicht, um diese drei Religionen von allen anderen zu isolieren. Dann nicht, um wieder neue Abgrenzungen im interreligioesen Miteinander herbeizufuehren, dann nicht, um die abrahamisch-monotheistisch-prophetische Oekumene gegen Religionen indischen oder chinesischen Ursprungs auszuspielen. Dann einzig und allein aus dem Grund, weil eine Figur wie Abraham etwas religioes Universales verkoerpert. In seiner Geschichte kommt etwas zum Ausdruck, was sich auch in anderen Religionen als Grundhaltung des Menschen gegenueber dem Heiligen, gegenueber dem Absoluten, gegenueber Gott finden laesst: die Kraft, aufzubrechen, Neues zu wagen aus radikalem Vertrauen auf Gott.

Schon der Beginn der Abraham-Erzaehlung ist ja, wie wir hoerten, durch zwei Schluesselworte gekennzeichnet: Aufbruch und Segen fuer alle Voelker. Spueren wir diesen Worten etwas nach. Zunaechst auf unserer ersten Station: Nachdenken ueber das Symbol des Aufbruchs. Abrahams Geschichte in der Hebraeischen Bibel beginnt ja nicht zufaellig mit dem programmatischen Wort "zieh weg". "Zieh weg aus deinem Land und aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus". Seitdem zieht Abraham, wie er spaeter sagen wird, "ins Ungewisse", ins Offene einer Zukunft mit all ihren Unwaegbarkeiten. Seine Geschichte steht damit im Gegensatz zu der eines anderen grossen Wanderers der antiken Kultur: Odysseus, der am Ende nach Ithaka, sein Heimatland, zurueckkehren durfte. Anders Abraham. Er verlaesst sein Vaterland "fuer immer", um "nach einem unbekannten Land aufzubrechen" - ohne Aussicht auf und Spekulationen mit Rueckkehr. Steht Odysseus archetypisch fuer eine Lebensbewegung zurueck ins Selbe und Bekannte, so Abraham fuer eine Lebensbewegung ins Offene und Unbekannte. Die Schluesselworte seiner Existenzform lauten denn auch: weggehen, auswandern, herumziehen, aufbrechen, weiterziehen. Der Grundrhythmus dieses Lebens heisst: niederlassen und aufbrechen. Loslassen des Vertrauten. Einen anderen Weg wagen. Durchbruch durch einmal gewonnene Plausibilitaeten. Abschied vom Konventionellen aus radikalem Gottvertrauen. Durchschauen der Selbstverliebtheit in die einmal gewonnene religioese Selbstzufriedenheit.

Leben aus radikalem Gottvertrauen heraus: das sagt sich leicht, ist aber ein Vabanquespiel mit dem eigenen Leben. Gerade Abraham zeigt, was ein solches Gottvertrauen in sich birgt: ein Stueck Zweifel ebenso wie ein Stueck Schlauheit, ein Stueck Angst genauso wie ein Stueck Vabanquespiel, ein Stueck wortlosen Gehorchens ebenso wie ein Stueck klugen Feilschens. Glauben als Akt des Aufbrechens trotz allem: trotz aller Vorbehalte, trotz allen Zaehneknirschens, trotz aller Angst.

Wer fuer die Verstaendigung zwischen den Religionen engagiert ist, wird Immer wieder mit der Frage konfrontiert: Wie kann man durchhalten angesichts eines oft entsetzlichen, deprimierenden Konflikts, ja Gewaltgeschichte zwischen den Religionen? Wie durchhalten, wenn man taeglich sieht, in wie vielen Laendern der Erde der Religionsfriede verraten, erstickt oder verhoehnt wird? Was hindert einen daran, zynisch abzuwinken, wenn es um ein neues Engagement zugunsten der Verstaendigung von Menschen verschiedener Religionen geht? Was laesst einen nicht resignieren, wenn man sieht, wie im Namen der Religion Menschenrechte verletzt, Frauen diskriminiert, Indoktrination betrieben, Kriege legitimiert und Terror durchgefuehrt wird?

Ich antworte: Um durchzuhalten, braucht es so etwas wie einen abrahamischen Geist, um allen Versuchungen zur Resignation zu widerstehen. Es braucht das, was ich abrahamische Spiritualitaet nenne: radikales Gottvertrauen - allen Vergeblichkeiten des Augenblicks zum Trotz. Denn abrahamische Spiritualitaet heisst: sich aufmachen ohne alle Sicherheiten, weil man sich von Gott auf einen Weg gestellt sieht. Heisst unter Umstaenden loslassen dessen, was vertraut ist; Preisgabe dessen, was zu festen Besitzstaenden zu gehoeren scheint. Heisst alles Irdische in Synagoge, Kirche und Umma relativieren zugunsten des je groesseren Gottes. Was umgekehrt bedeutet: Wenn es einen Verrat an Abraham gibt, dann ist es die Seelenverhaertung, die Erstarrung in ueberkommener Traditionen, die Resignation angesichts schier uebermaechtiger Probleme. Abrahamische Spiritualitaet ist das staerkste Gegengift gegen einen laehmenden Fatalismus, die beste Zynismusprophylaxe. Spiritualitaet ist die Kraft, sich gemeinsam auf einen Weg zu machen, aus welcher religioesen Tradition auch immer wir kommen. Die Quelle dieser Kraft sind nicht wir selber, wir leben von einer Energie, die uns geschenkt ist. Wir muessen uns ihr oeffnen, damit sie in uns wirkt. Oeffnen bedeutet Aufbrueche wagen, einen anderen Weg versuchen. Dadurch entsteht ein Geist der Geschwisterlichkeit. Er bagatellisiert nicht die Unterschiede, er hebt nicht die jeweilige Eigenstaendigkeit auf. Fuehrt aber in die Tiefe des Ursprungs, dem wir alle uns verdanken: Gott selbst als das unaussprechliche Geheimnis unserer Existenz.

Glauben in diesem radikalen Sinn verbindet uns: Wissen um den Ursprung, der wir nicht selber sind, nicht die Geschichte und nicht des Menschen Produktion und Leistung. Daraus kann alles relativiert werden, was zum Vorlaeufigen, Endlichen, Bedingten gehoert. Bindung an das Unbedingte macht uns frei im Raum des Bedingten. Glauben in diesem radikalen Sinn erlaubt uns die Freiheit, aufeinander zuzugehen und gemeinsam einzustehen fuer die grossen Ideale des Weltfriedens und der Weltgerechtigkeit - trotz aller Differenzen zwischen uns, trotz aller Traditionen, die uns trennen, trotz aller Konventionen, die uns unterscheiden.

Dieses Verstaendnis von Glauben kommt gerade auch aus der christlichen Ur-Kunde uns entgegen, die wir gehoert haben: dem Kapitel 11 des Briefes an die Hebraeer. Ein einzigartiger Text fuer das Miteinander von Juden und Christen, der das, was Glauben im Tiefsten und letzten meint, an zahlreichen Gestalten der Hebraeischen Bibel illustriert. Denn bevor Abraham und Sara gelobt werden, wird derselbe Glaube bei Figuren vor Abraham festgemacht: Abel, Henoch, Noah. Und auch nach Abraham ist dieselbe Glaubensenergie auszumachen: von Mose und Daniel bis zu den Propheten. Eine einzige Juden wie Christen verbindende Kette von Glaubenszeugen. Aber gerade so nichts exklusiv Juedisches oder Christliches, sondern etwas Universales. Die Herausforderung von Hebr. 11 fuer das interreligioese Miteinander besteht bis heute in solchen Konsequenzen:

- Glauben im radikalen Sinn (alles von Gott erwarten, aller menschlichen Skepsis zum Trotz) gibt es nicht erst durch Jesus Christus. Dieses Glauben gab es schon in Israel durch die ganze Geschichte hindurch. Und wir werden aufgrund unseres Wissens hinzufuegen koennen: diese Praxis des Glaubens wird auch in anderen Religionen gelebt, nicht nur im Islam, auch in Indien und China. Daraus folgt:

- Wer als Christ an Gottes Handeln in Jesus Christus glaubt, glaubt zugleich wie Abel und Noah, wie Abraham und die Propheten, wie der Prophet Mohammad, wie all diejenigen, die ihr Leben radikal auf ein Absolutes, Heiliges, Unaussprechbares gruenden.

Radikal glauben heisst demnach fuer alle Menschen - nach dem Wortlaut von Hebr. 11: Festhalten an dem, was man erhofft; Wegziehen-Koennen aus vertrauten Bindungen; Sicherheiten preisgeben und als Fremder in einem Lande leben koennen, das nicht die eigene Heimat ist; selbst das Liebste weggeben koennen im Vertrauen darauf, dass der Gott, auf den wir blicken, die Macht hat, aus Totem Lebendiges zu machen. In diesem Sinn gilt es sich auf den Weg zu machen: der Weg des Friedens ist der Weg des Lebens.

II

Das zweite Stichwort der Abrahamserzaehlung lautete: Segen fuer alle Voelker. Bemerkenswert diese Plazierung des Voelkersegens gleich zu Beginn der Abrahamserzaehlung. Bemerkenswert, weil der Leser des Buches Genesis noch all die Katastrophengeschichten in Erinnerung hat, in denen die Voelker der Welt bisher eine fatale Rolle spielten: den Suendenfall und damit die Vertreibung aus dem Paradies (Gen 3); den Brudermord und damit die Pervertierung der urspruenglich guten Menschheit (Gen 4); die Sintflut und damit die Vernichtung der urspruenglich guten Schoepfung durch Gott selber (Gen 6-9), schliesslich den Turmbau zu Babel und damit die hybride Provokation Gottes (Gen 11). Wenn also von den Voelkern bisher die Rede war, dann nur unter dem Vorzeichen: Suende, Vernichtung, Hybris. Gewiss: Gott hatte schon mit Noah einen ersten Bund geschlossen (Gen 9,8-17) und mit dem Zeichen des Regenbogens sichtbar bekraeftigt. Aber dieser Bund gilt der Erhaltung der Schoepfung allgemein. Erst mit Abraham, Hagar und Sara beginnt eine Segensgeschichte fuer eine neue Menschheit, die nicht mehr unter der Drohung der Ausloeschung steht.

"Ein Segen solltest du sein ... durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen". Eine Botschaft von universaler Dimension. Gottes Segen fuer Abraham ist kein exklusiver Besitz Israels, ist kein Volkssegen fuer Israel allein. Gottes Segen reicht ueber Israel hinaus und umgreift alle Voelker. Die Kraft und Reichweite des Abraham-Segens ist buchstaeblich universal. Abraham ist kein Segensmittler fuer Israel exklusiv, sondern der durch Gott (nach dem Suendenfall, dem Sintflut-Chaos und dem Turmbauscheitern) ermoeglichte neue Anfang einer Segensgeschichte fuer eine erneuerte Menschheit.

Deshalb kennen schon die Abraham-Geschichten der Hebraeischen Bibel keinerlei Beruehrungsaengste gegenueber anderen Glaubensformen. Abraham glaubt an seinen persoenlichen Gott, aber er war nicht das, was man einen kaempferischen und intoleranten Religionsfanatiker nannte. Wir hoeren davon, wie Abraham seinen Gott verehrt, sich in Treue ihm anvertraut und auch dann noch an ihm festhaelt, als dieser Gott das Aeusserste von ihm verlangt: das Opfer seines Sohnes, auf den er so lange und schmerzlich habe warten muessen. Aber von einem berichtet das Buch Genesis nicht: von Abrahams Intoleranz gegenueber anderen Glaubensformen, von Abrahams Unduldsamkeit gegenueber Menschen, die ihren Gott auf ihre Weise verehren. Der Abraham der Urtexte ist keine apokalyptische Kampffigur, kein fanatischer Exklusivist, kein rasender Ikonoklast.

Im Gegenteil: Die Urgeschichten von Abraham lassen eine ausgesprochene familiaere Atmosphaere erkennen ohne Ausschliesslichkeit, Unduldsamkeit oder Polemik gegen andere religioese Praktiken. Abraham kann seinen Gott verehren, ohne anderen Menschen die Verehrung ihrer Goetter zu bestreiten. So baut er denn auch gleich zu Beginn seines Auftritts in Kanaan seinem Gott einen Altar (ausdruecklich neben den Kunststaetten anderer Goetter). Er folgt seinem Gott und laesst andere Goetter gelten. Wir hoeren kein Wort davon, dass Abraham durch das Bergland von Palaestina gezogen waere, um die Altaere anderer Goetter auszurotten, wie dies spaeter in Israel religionsgesetzlich angeordnet wurde.

Hier haben wir eine einzigartige Quelle fuer ein Miteinander der Religionen ohne alle Vermischung, ohne alle Relativierung. Von Abraham her gibt es keine Machtansprueche zwischen den Religionen. Abraham will nicht herrschen, dem Machtstreben, der tiefsten Versuchung des Menschen ueberhaupt, widersteht er. Wer unterwegs ist, kann nicht herrschen wollen. Er betet dort seinen Gott an, wo auch andere ihren Gott anbeten. Er verdammt nicht die Heiligtuemer anderer, aber er betet auch nicht die Goetter anderer an. Die Stimme seines Gottes vernimmt er. Neben den anderen baut er seinen Altar. Gemeinsamkeit und Differenz werden deutlich. Abraham hat offenbar diese Gemeinsamkeit nicht als Gefahr gesehen, wie andere Generationen nach ihm.

Zugleich ist Abrahams Toleranz keine billige, wie gerade sein Glaubensbekenntnis an den einen Gott deutlich macht, das in Sure 6 ueberliefert ist. Denn hier kaempft Abraham ja nicht gegen ein anderes Verstaendnis Gottes, eine andere Religion, sondern gegen Goetzendienerei, was konkret heisst: Vergoetzung irdischer Dinge, die sich in Wirklichkeit als Selbstfrabrikationen des Menschen entlarven. Abrahams Toleranz erstreckt sich nicht auf Idolatrie - damals oder heute. Im Gegenteil. Wer sich auf Abraham beruft, wird im Namen des einen und wahren Gottes jeder Idolatrie wehren. Und Idolatrie tritt heute nicht mehr in der Form der Anbetung holzgeschnitzter Goetterbilder auf, nicht mehr in der Verehrung von Gestirnen oder kosmischen Erscheinungen, sondern in neuen Transformationen: Nationalismus, Fremdenhass, Konsumismus, Rassismus und Sexismus. Und gerade dem Koran und der juedischen ueberlieferung zufolge zerstoert Abraham die Idole, reisst die Maske von Dingen, die nicht Gott sind, sondern menschliche Kreationen. Die Idole sind heute nicht laenger aus Ton wie zur Zeit des Vater Abrahams. Sie sind heute aus dem Rohmaterial von Vorurteil, Ignoranz und Angst. Sie treten in neuen Verkleidungen und Verwandlungen auf.

Deshalb brauchen wir eine neue interreligioese Kommunikationspraxis - in Deutschland und weltweit. Konkret heisst das:

(1) Religionsgemeinschaften haben in der einen Weltgesellschaft, in der wir leben, mehr denn je Verantwortung dafuer, dass die Gewaltbereitschaft und die Totalitaetsansprueche in ihren jeweiligen Glaubensgemeinschaften abgebaut werde. Hier aber muessen die Prozesse wechselseitig sein, damit die Friedlichen und Dialogbereiten in den Religionen nicht die Dummen sind. Verstaerken kann man diese Prozesse durch vertrauensbildende Massnahmen zwischen den Religionen. Diese muessen darauf abzielen, dass Friedfertigkeit und Kooperationsbereitschaft nicht ausgenutzt werden. Ja, ein Testfall fuer die Glaubwuerdigkeit jeder Religion ist die Behandlung von Minderheiten in ihrem jeweiligen Einflussbereich; ;Vertrauen untereinander wird in dem Masse wachsen, wie man sich zu Anwaelten von Andersglaeubigen im jeweiligen Herrschaftsgebiet macht.

(2) Insbesondere brauchen wir in allen drei abrahamischen Religionen einen Wechsel der Mentalitaeten. ueberall gibt es noch zu viel an gewaltbereitem Fanatismus und selbstgerechtem Totalitaetsanspruch. ueberall noch zu viel politisch-taktische Verstellung (oft hinter der Fassade von Dialog- und Kooperationsbereitschaft), um den Herrschaftsanspruch der eigenen Religion auf Kosten aller anderen durchzusetzen. Eretz-Israel-Fanatiker im Judentum gehoeren genauso dazu wie protestantische Missions-Fundamentalisten, welche alle anderen Religionen durch Bekehrung ausloeschen wollen, katholische Heilsexklusivisten, die Nichtchristen Unheil androhen und ihnen nichts als ihre Defizite vorhalten, sowie muslimische Extremisten, die von einer "Weltmacht Islam" traeumen und mit einer dualistischen Ideologie vom "Haus des Islam" und "Haus des Krieges" die Menschheit noch weiter spalten.

Das aber ist Verrat am abrahamischen Geist. Das ist Missbrauch der Religion zu totalitaeren Missionsanspruechen oder groessenwahnsinnigen Weltbekehrungskonzepten. Die groesste Blasphemie, so habe ich von einem meiner muslimischen Kollegen in den Vereinigten Staaten, Professor Mahmoud Ayoub, gehoert, ist die Idolatrie. Und die schlimmste Form von Idolatrie ist die Selbstvergoetzung des eigenen Staates, der eigenen Nation oder der eigenen Religion. In Namen des wahren Gottes sind solche blasphemischen Vergoetzungstraeume in allen Religionen radikal zu entmythologisieren und als das zu entlarven, was sie sind: die religioese Maskierung kruder menschlicher Herrschaftsgelueste.

In allen Religionen aber haben sich Stimmen zu Wort gemeldet, welche bereit sind, aus der eigenen Glaubensueberzeugung heraus die Existenz der anderen Geschwister als Bereicherung zu erfahren. Eine Oekumene der Kinder Gottes wird es naemlich nur dann geben, wenn niemand mehr die je anderen als "Unglaeubige", "Abgefallene", "ueberholte" und "Defizitaere" abqualifiziert. Ja, wenn sie positiv bereit sind, sich als Brueder und Schwestern im Glauben an den einen Gott gegenseitig anzunehmen.

Diese neue interreligioese Kommunikationspraxis setzt den Glauben daran voraus: Keine der grossen religioesen Traditionen kann Gott fuer sich allein beanspruchen, keine die ueberlegenheit der eigenen Tradition von ihm her legitimieren. Gott ist groesser als alle Gottesbilder und Gotteskulte von ihm. Schauen wir auf Abraham, so erkennen schon die Heiligen Schriften selber: Abraham ist frueher als andere gewachsenen, kristallisierten religioesen Traditionen: Vor der Tora und ihrem Religionsgesetz, vor der Kirche und ihren Dogmen, vor dem Koran und seinen Rechtsvorschriften. Abraham ist nach allen Traditionen der "Freund Gottes", der die Freundschaft zu Gott lehren kann. Und diese Freundschaft zu Gott sollte man nicht wieder dadurch verspielen, dass man den Exklusivismus seiner eigenen Traditionen pflegt.

Nur dann entsteht eine neue interreligioese Vertrauensbasis, wenn nicht die Funktionalisierung Gottes fuer den eigenen Wahrheitsanspruch im Vordergrund steht, sondern die Sache Gottes, zu der alle Glaubenden immer wieder auf dem Weg sind: Abkehr von falschen Idolen (darunter besonders die Selbsterhoehung ueber andere) und das Vertrauen auf den einen und wahren Gott, der je groesser ist als alle von Menschen gemachten religioesen Traditionen und Konventionen, auf einen Gott also, "der die Toten lebendig macht und das, was nicht ist, ins Dasein ruft". Eine Oekumene der Kinder Gottes wird es nur geben, wenn alle sich begreifen als "Hanife" wie Abraham: als Gott-Sucher, Gott-Vertrauende, Gott-Beschenkte. Denn glauben wie Abraham heisst - es sei noch einmal betont - nicht starres Festhalten an Vergangenheiten und ererbten Besitztuemern, sondern Fortziehen, Aufbrechen, "ohne zu wissen, wohin man kommt" (Heb 17,8), "Hoffen gegen alle Hoffnung" (Roe 4,18).

Hoffnung aber ist nicht grundlos, weder theologisch noch praktisch. Und so leben wir alle denn immer wieder von Hoffnungszeichen. Drei davon habe ich selber erlebt:

- Im Herbst 1998 erhielt ich Besuch aus der vom Buergerkrieg entsetzlich betroffenen bosnischen Hauptstadt Sarajewo. Ein protestantischer Pfarrer aus Deutschland hatte dort eine Friedensinitiative unter dem Titel "Abraham" ins Leben gerufen. Ich konnte kaum glauben, was er mir erzaehlte: Trotz allem war es ihm gelungen, insbesondere Jugendliche juedischer, christlicher und muslimischer Herkunft zu gewinnen, um ueber die Graeben des Hasses, der Gewalt und der Zerstoerung Bruecken der Verstaendigung zu bauen. Der Name, der dem interreligioesen und interkulturellen Anliegen Profil gab, war kein anderer als Abraham.

- Ein zweites, mich ermutigendes Zeichen kam im August des Jahres 2000. Ein Gymnasiallehrer aus Hannover (OStR Reinhard Tegtmeier-Blanck) informierte mich ueber sein interkulturelles und interreligioeses Theaterprojekt "Nathan der Weise", das er mit deutschen Jugendlichen aus Hannover und juedischen und muslimischen Jugendlichen aus Israel durchfuehrte. Kaum glaublich: Sollte es wirklich moeglich gewesen sein, trotz aller politischen und religioesen Hindernisse ein solches Projekt zu verwirklichen? Juden, Christen und Muslime ueber die politischen Abgruende der Geschichte und Gegenwart hinweg zusammenzubringen? Lessings "Nathan der Weise" ist in der Tat der literarische Archetyp einer abrahamischen Oekumene. Aber dass sein Stueck im Zentrum eines Gegenwartsprojektes mit Jugendlichen aus Deutschland und Israel stehen wuerde, haette ich nicht zu traeumen gewagt.

- Im Oktober 2000 fand im Grossraum Stuttgart das "Erste Abrahamfest" statt. Juden, Christen und Muslime kamen (oft erstmals) zusammen, begegneten sich bei Vortraegen, Podiumsdiskussionen, Workshops. Ein von christlichen und muslimischen Jugendlichen geschriebenes und inszeniertes Theaterstueck versuchte, die Geschichte Abrahams, wie sie in der Hebraeischen Bibel, im Neuen Testament und im Koran ueberliefert ist, in die heutige Zeit zu uebertragen und fuer das Miteinander gerade junger Juden, Christen und Muslime in Deutschland fruchtbar zu machen. Organisiert wurde dieses Treffen von der oertlichen christlich-islamischen Gesellschaft, fuer die sich auch viele Jugendliche engagieren.

"Ich bin ein Clown und sammle Augenblicke". Zu diesen Augenblicken gehoert das, was Helmut Schmidt in seinen Erinnerungen an den Muslim Anwar el-Sadat aufbewahrt hat. Ein Moment im Jahre 1977. Jahrzehntelang hatten Israel und Aegypten blutige Kriege gegeneinander gefuehrt, der letzte lag gerade vier Jahre zurueck, da unternimmt der aegyptische Staatspraesident seine Friedensreise und spricht vor dem israelischen Parlament, der Knesset. Tiefglaeubiger Muslim, der er ist, sieht sich Sadat von abrahamischer Spiritualitaet durchdrungen, und aus dieser Spiritualitaet heraus wollte er ein Friedenszeichen fuer die Voelker setzen. Welch ein seltsamer Moment in der Geschichte von Juden und Muslimen, als Sadat vor der Knesset von Abraham sprach. Welch seltsamer Moment auch, den Helmut Schmidt in seinen Erinnerungen ueber ein Gespraech mit Sadat aufbewahrt hat. Und immer, wenn ich diese Passage ueberdenke, wird mir bewusst, was interreligioese Kommunikation im Tiefsten und Besten sein kann: Aufschliessen des Herzens des Anderen und ihn freimachen fuer das Beste und Tiefste, was die eigene Tradition zu sagen hat:

"Einmal fuehrten wir in Aegypten mehrere Tage lang ein Gespraech ueber religioese Fragen. Wir fuhren zu Schiff nilaufwaerts, schliesslich bis nach Assuan. Die Naechte waren voellig sternenklar. Wir sassen stundenlang an Deck, hatten Unendlichkeit und Ewigkeit ueber uns und sprachen ueber Gott. ...
Sadat hoffte auf eine grosse friedliche Begegnung von Judentum, Christentum und Islam. Sie sollte symbolisch auf dem Berge Sinai stattfinden, dem Mosesberg, wie er im Arabischen genannt wird. Dort sollten nebeneinander eine Synagoge, eine Kirche und eine Moschee gebaut werden, um die Eintracht zu bezeugen. Tatsaechlich hat Sadat 1979, zwei Jahre nach seiner Jerusalemreise, dort einen Grundstein fuer die Gotteshaeuser gelegt ... Sadats Friedenswille entsprang dem Verstaendnis und dem Respekt vor den Religionen der anderen. Erst von ihm habe ich gelernt, Lessings Parabel von den drei Ringen voll zu begreifen. Sadat hat Lessing wohl kaum gekannt, aber er hat Lessings Mahnung nicht bedurft. ...
Der Mord am 6. Oktober 1981 setzte allen Vorhaben und Visionen dieses ganz und gar ungewoehnlichen Mannes ein Ende. Er war von einer fuer Regierungschefs ungewoehnlichen Offenheit gewesen, und niemals vorher oder nachher habe ich mit einem auslaendischen Staatsmann derart ausfuehrlich ueber Religion gesprochen. Ich habe ihn geliebt. Wir waren bis auf zwei Tage gleichaltrig. Unsere naechtliche Unterhaltung auf dem Nil gehoert zu den gluecklichsten Erinnerungen meines politischen Lebens."

Es gibt eine Topographie spiritueller Erfahrung: kostbare Augenblicke an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit, die wir in unserer Seele tragen und von denen wir geistlich-geistig leben. Ich wuensche mir solche naechtlichen Unterhaltungen fuer uns alle, die das Herz fuereinander freimachen: ob auf dem Nil, auf dem Neckar, auf der Pregnitz oder wo immer die Fluesse fliessen.

Literatur zur Vertiefung

K.-J. Kuschel, Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt - und was sie eint, Duesseldorf 2001.
K.-J. Kuschel, Vom Streit zum Wettstreit der Religionen. Lessing und die Herausforderung des Islam, Duesseldorf 1998.


Der Vortrag wurde von Prof. Kuschel am "Abrahams-Tag" gehalten, einer Veranstaltung organisiert von der Christlich Islamischen Gesellschaft (Region Stuttgart) am 2. Juni 2002 in Filderstadt. Bei dieser Veranstaltung wurden die Entscheidung der Jury bekanntgeben, die über die architektonischen Entwürfe von Diplomanden der FH Stuttgart für ein zukünftiges "Abrahamshaus" als Ort der Begegnung zwischen Juden, Christen und Muslimen zu befinden hatte. Vorsitzender der Jury war Schech Bashir Ahmad Dultz der Tariqah As-Safinah.



Tariqah As-Safinah - 1423 / 2002