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Der Korankommentar Schech al Alawis zur Surah al ’Asr

von Ismail Warscheid 2006 / 1427

(bei dem vorliegenden Text handelt es sich um die deutsche Version eines Referats, das ich im Rahmen meines Arabistikstudiums an der Universität Genf halten musste. Sie ist deutlich gekürzt und vereinfacht worden, um ein besseres Verständnis für Menschen die des Arabischen nicht mächtig sind, zu ermöglichen.)

Sufismus

Dr Begriff Sufismus (tasawwuf) bezeichnet die Spiritualität im Islam. Er steht für den Versuch die Religion zu verinnerlichen, ihren inneren (batini) und äusseren (thahiri) Aspekt in Harmonie zu bringen, um so zu versuchen sich Gott zu nähern. Das endgültige Ziel ist ein Zustand, indem de r Mensch völlig vom Gottesgedenken (dhikrul Allah) durchdrungen ist und in dem jede Handlung , jeder Moment des menschlichen Lebens eine Form von Anbetung (ibada) geworden ist.

Der Sufismus gründet sich auf dem Qur’an und der Sunna des Propheten (sas) und steht so in Harmonie mit den schriftlichen, orthodoxen Quellen des Islam. Das Ziel ist jedoch den tieferen Sinn der verschiedenen Koranverse und Überlieferungen zu verstehen, da man im Sufismus davon ausgeht, dass beispielsweise jeder Koranvers mehrere Bedeutungsdimensionen umfasst. Man könnte die islamische Mystik daher auch als eine permanente, ein Leben lang andauernde Meditation der göttlichen Offenbarung verstehen. Der Hauptaspekt dieser spirituellen Auseinandersetzung liegt hier in der Beziehung zwischen Gott dem Herrn (rabb) und dem Menschen seinem Diener ( abd).

Schech al Alawi

Ahmad ben Mustafa al Alawi war ein Sufimeister des zwanzigsten Jahrhundert und stand in der Tradition der nordafrikanischen Shadhiliyya Tariqah. Geboren wurde er 1869 in Mostaghanim an der algerischen Mittelmeerküste, wo er auch im Jahre 1934 starb. Zu dieser Zeit befand sich Algerien seit bereits fast hundert Jahren unter französischer Kolonialherrschaft. Der Norden des Landes war sogar formell dem Mutterland angegliedert worden, was jedoch keinerlei positive Auswirkungen für die überwältigende Mehrheit der muslimischen Bevölkerung hatte. Die Kolonialverwaltung stand den Sufiorden generell sehr misstrauisch gegenüber. Sie betrachtete sie als potenzielle Unruhestifter, war doch die letzte grosse Erhebung gegen die französischen Besatzer in der Kabylei im Jahre 1870 hauptsächlich vom Rahmaniyya Orden organisiert worden. Auch wenn viele Sufiorden mit den Kolonialherrn kollaborierten, versuchten die Franzosen ihren Einfluss zu schwächen. Dies ist vor allem im grösseren Kontext der systematischen Zerstörung der Strukturen der traditionellen Gesellschaft während des Imperialismus zu sehen. Viele Familien zogen es in dieser Zeit vor, nach Tunesien oder nach Libyen auszuwandern, um so die eigene Kultur zu wahren. Auch Schech al Alawi war lange Zeit fest entschlossen, seine Heimat zu verlassen.

Der Schech begann sich schon früh für Sufismus zu interessieren und schloss sich nach einer kurzen Zeit als Aissawi-Derwisch Schech Habib al Bouzidi an. Letzterer stand in Tradition der Derqawiyya Tariqah, eines der wichtigsten Ordens Marokkos, dessen Zentrum sich nördlich von Fez im Gebiet der Banu Zarwal befindet. Nach dem Tod seines Meisters 1909 wurde Schech al Alawi von den anderen Schülern zum neuen Meister der Tariqah bestimmt. Nach anfänglichem Zögern nahm er schliesslich diese grosse Verantwortung an und gewann schnell an Bekanntheit in der Region. Sein Ruf wurde mit der Zeit so gross, dass Menschen aus der ganzen islamischen Welt und sogar aus Europa nach Mostaghanim reisten, um von seiner Weisheit zu lernen. Man betrachtete ihn als Pol seiner Zeit (qutb az zaman), als jenen Erneuerer (mujaddid), der laut einem bekannten Hadith am Anfang jedes Jahrhunderts kommt, um die islamische Religion zu reformieren. Bei seinem Tod im Jahre 1934 soll Schech al Alawi angeblich mehr als 200000 Schüler gehabt haben. Sein Orden ist noch heute sehr aktiv und man findet verschiedene Zweige der Alawiyya überall in der islamischen Welt. Die Migrationsbewegungen der letzten 50 Jahre haben ebenfalls dazu beigetragen, dass sich die Lehre des Schechs auf allen Kontinenten verbreitet hat, vor allem natürlich in Europa, wo Angehörige seines Ordens sich aktiv für das Entstehen eines blühenden, europäischen Islams einsetzen.

Schech al Alawi hat mehrere Bücher und kürzere Schriften verfasst, die noch zu Lebzeiten und nach seinem Tod veröffentlicht wurden. Er widmete sich hauptsächlich theologischen Problemen, aber auch die sozialen und politischen Probleme seiner Zeit beschäftigten ihn. So gründete er eine Zeitschrift oder verfasste eine bekannte Apologie des Sufismus gegen die Angriffe der Salafiyya Bewegung, welche in den Zwanzigern überall in der islamischen Welt an Bedeutung gewann.

Der Kommentar

Der Tafsir zur Surah al ‘Asr umfasst nur einige Seiten und wurde wahrscheinlich irgendwann in den zwanziger Jahren verfasst. Es fehlt ein genaues Erscheinungsdatum. Wie man im Vorwort erfährt, wurde das kleine Heftchen in Tunis gedruckt. Die erste Auflage war schnell vergriffen und so lies man auf Bitten der Ordensmitglieder eine zweite anfertigen. Gewidmet ist der Kommentar den Schülern des Schech, dass er ihr Fortschreiten auf dem ( fi tariq) Weg fördere.

Zur Erinnerung hier noch einmal die Sure mit ihrer Übersetzung.

Im Namen Gottes des Erbarmers, des Barmherzigen
Bei dem Zeitalter,
Wahrlich der Mensch ist in einem Zustand offenkundigen Verlustes
Ausser denjenigen, die glauben, die Gutes tun, die sich die Wahrheit empfehlen und die sich zu Geduld ermahnen.

Für Schech al Alawi stellt die Sure einen Schwur Gottes dar, um dem Menschen die schweren Folgen seines Falls deutlich zu machen. Dies wird durch die Benutzung des Wortes Inna (wahrlich) und des Buchstaben lam unterstrichen. Die beiden Anfangsbuchstaben alef und lam stehen nämlich in der islamischen Mystik als Symbole für Mann und Frau beziehungsweise für das weibliche und männliche Prinzip der Schöpfung. Die Menschheit in ihrer Gesamtheit ist also angesprochen.

Dennoch ist der Mensch sich seines Verlustes nicht bewusst (yaghal) und lebt in einer Illusion. Dieser Zustand wird so lange andauern, bis der Mensch seinen ursprünglichen Zustand begreift, bevor Geist (ruh) und Körper (gism) vereint wurden. Zu dieser Zeit war er ein Juwel, rein und frei von jeglicher anderen Materie, wogegen er heute nur noch Opfer und Sklave seiner körperlichen Natur ist. So hat er sich sehr weit von seinem ewigen Glück entfernt (nayyal sa’adithi al abadi). Nur mit göttlicher Hilfe wird der Mensch sich aus diesem Zustand befreien können. Einmal seinem Gefängnis entronnen, wird er das ganze Ausmass seines Verlustes begreifen.

In seinem ursprünglichen Zustand schwamm der Geist des Menschen im Meer der göttlichen Einheit und befand sich in einem direkten Dialog mit seinem Schöpfer. Nach seinem Herabsteigen auf den ersten fleischlichen Körper (Adam) bewahrte der Mensch noch einen Teil seines früheren Adels. Er strebte nach Wissen und die Engel verneigten sich vor ihm.

Dennoch verlieh die Verbindung mit seinem Körper dem Menschen einen anderen Charakter (sibgha), als es vorher der Fall gewesen war. Der Mensch jedoch bemerkte diese Veränderung nicht, als er in das allgemeine Geschlecht (al gins al am) einging.

Zwischen diesen zwei Ebenen des menschlichen Seins liegt eine gewaltige Distanz. Der fleischgewordene Mensch ist sichtbar (mashud bilhas), greifbar (mudrak bi lams) und unterscheidbar durch sein Geschlecht (mukhassas bi fasl min al gins). Der spirituelle Mensch hingegen weicht von ihm in seiner Art völlig ab, denn seine Natur ist göttlich (rabbani). Die Aufgabe des Menschen ist es nun von seiner äusseren Erscheinung zu seinem inneren Wesen zurückzureisen, indem er sich vom Joch seiner Nafs befreit. Auf diese Weise wird er seinen alten Adel (sharafihi) wiederfinden und das ewige Glück erlangen.

Die Koransure weisst im letzen Vers auch darauf hin, dass ein Teil der Menschheit vom Verlust ihres ursprünglichen Wesens verschont sind: „ [...] ausser denjenigen die glauben, die Gutes tun, die sich die Wahrheit empfehlen und die sich zu Geduld ermahnen.“ Nur wenige Menschen sind imstande, diese vier Bedingungen zu erfüllen, die notwendig sind, um das ewige Glück zu erlangen. Ohne ihre vollständige Realisierung jedoch kann sich das entgültige Heil (al khalas an nihai) nicht realisieren.

Der Glaube an Gott, seine Bücher, seine Propheten, die Engel und den jüngsten Tag bildet in diesem Zusammenhang nach Meinung des Schechs nur den Anfang des Weges, keinesfalls seine Vollendung. Zu glauben ist zwar bereits ein grosser Schritt, aber er bleibt unvollständig ohne das Praktizieren von Barmherzigkeit (al amal al salih), welche alle guten Taten einschliesst und alle schlechten ausschliesst.

Die nächste Stufe der Gottesverehrung ist die Empfehlung, sich an die Wahrheit zu halten. Sie ist definiert durch die Regel, das Gute zu befehlen und das Schlechte zu verbieten (al amr bil ma’ruf wan nahi an al munkar). Derjenige, welcher diese drei Eigenschaften in seiner Persönlichkeit realisiert hat, muss oft unter Unrecht und Plagen (al adha) leiden. Aus diesem Grunde gebietet Gott ihm geduldig zu sein und auf seinen Herrn zu vertrauen. Die Tugend der Geduld charakterisiert sich dadurch, dass man das Schlechte standhaft erträgt und selbst sich des Schlechten enthält.

Die Realisierung dieser vier zentralen Tugenden findet ihr Beispiel im Leben der verschiedenen Propheten (der Frieden sei auf ihnen allen). Die Gesandten Gottes besitzen sie jedoch schon von Natur an, während die Freunde Gottes (al awliya illah) sich bemühen müssen, um sie zu erlangen. Das Vermächtnis der Propheten hilft ihnen in ihrer Anstrengung. Indem sie sich mit ihm verbinden, werden sie selbst zu Erben der Gesandten Gottes. Die Menschen, welche noch nicht mit diesem prophetischen Erbe verbunden sind, müssen einen Meister finden, der für sie die Verbindung (silla) realisiert.

Der Mensch muss also nach seinem Heil streben, indem er seine Verantwortung gegenüber Gott erfüllt. Dies ist nur dann möglich, wenn er für seinen Mitmenschen das wünscht, was er auch für sich selbst wünscht. Darin liegt auch der einzige Beweggrund für den spirituellen Meister, zu lehren und anzuleiten. Wie kann er ruhig sein und gleichzeitig mit ansehen, in welcher Verfassung sich die Menschheit befindet?

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es nach Auffassung Schech al Alawis zwei Arten von Mensch gibt. Der eine ist vollkommen (kamil) und in Harmonie mit seinem Schöpfer, der andere hingegen gefallen und nur noch ein Schatten seiner selbst. Der spirituelle Weg besteht deshalb darin, zum Urzustand zurückzukehren mit Hilfe der vier Tugenden, deren Symbole die Propheten sind und die im letzen Vers der Sure genannt werden: Glaube, Barmherzigkeit, Wahrheit und Geduld.

** Für genauere Informationen zu diesem Thema verweise ich auf RIVET, Daniel, Le Maghreb à l’épreuve de la colonisation, Paris, Hachette, 2002.



Tariqah As-Safinah - 1427 / 2006