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Impressionen einer Reise nach Tunis

Bericht von Ismail Warscheid

Im August 2005 reiste ich für drei Wochen nach Tunis. Ausschlaggebend war eine Einladung von Monsieur Zouhair Jied, einem tunesischen Journalisten, der in diesem Jahre ebenfalls zum Shadhiliyya Schech von Sidi Ali Khattab gewählt wurde, einem religiösen Zentrum in der Nähe von Tunis. Meine Reise verfolgte mehrere Ziele: Zum einem ging es darum Kontakte und Freundschaften zu vertiefen, die ich 2004 in Tunis geschlossen hatte. Zum anderen diente die Reise Studienzwecken, eine rihla li talab al ’ilm (Reise zur Erlangung von Wissen) sozusagen, dem tunesischen Islam und der arabisch/maghrebinischen Kultur als solchen gewidmet. Hier interessierte mich besonders die Fragestellung, wie sich die einzelnen islamischen Ordensgemeinschaften und ihr Platz in der Gesellschaft im Laufe der Geschichte entwickelt haben und wo sie heute stehen.

Die wichtigste Tariqah in Tunis ist ohne Zweifel die Shadhiliyya, deren große Zawiya sich auf dem Hauptfriedhof befindet. So begann denn auch mein Aufenthalt mit einer „Audienz“ beim Großschech der Shadhiliyya, Monsieur Hassan bel Hassan, anlässlich des Donnerstagabend-Dhikrs. Diese Veranstaltungen finden jedes Jahr in den Sommermonaten statt und dauern vom Nachmittagsgebet bis zum Morgengebet. Sie beginnen mit der Rezitation der Ordenslitaneien einer der traditionellen Turuq vom Tunis, wie z.B. die Aisawiyya oder die Sulaymiyya, die sich Woche für Woche abwechseln. Das Ganze ähnelt einem großen Jahrmarkt, vor allem am späten Nachmittag und Abend, wenn hunderte von Menschen sich auf dem Areal tummeln, beten, dösen oder in einem Café unterhalb der Zawiya langsam ihren Mokka schlürfen und den fantastischen Blick auf Tunis genießen.

Es finden sich auch viele Stände, die Süßigkeiten oder Glücksbringer verkaufen. In der Zawiya hält derweil nun ein Faqih eine religiöse Unterweisung und beantwortet Fragen. An jenem Donnerstag ging es um die Wichtigkeit der Sauberkeit und der Körperhygiene im Islam. Man sieht, dass diese Art von Unterweisungen meist einen sehr pragmatischen Zweck haben und sich vor allem an die einfachen Menschen richten, um ihnen Hilfestellung in den Problemen des Alltags zu bieten. Ungefähr zwanzig Minuten vor dem Nachgebet stimmen die Munshidun (die Hymnisten) das Lob auf den Propheten (sas) auf eine Art an, die es so nur in Tunis gibt, wie Schech Hassan mir eindringlich versicherte.

Nach dem Isha beginnt der eigentliche Dhikr, man rezitiert für über eine Stunde den Qur’an und wendet sich dann dem Kern der tunesischen Shadhiliyya zu, der Rezitation der Ahzab (sg. Hizb), der Gebete, die der Ordensgründer einst verfasste. Der Innenhof vibriert nun unter den feierlichen, kraftvollen Gesängen, die von der geistigen Verfasstheit Imam As Shadhilis zeugen, während über uns die Sterne des Südens leuchten.

Es ist mittlerweile weit nach Mitternacht. Die Rezitation der Ahzab neigt sich dem Ende zu und Schech Hassan, begleitet vom Gesang der Munshidin, begibt sich einen kleinen Raum, in dem al Shadhili zu beten pflegte. Die Anwesenden grüssen nun der Reihe nach den Schech. Danach macht sich die Mehrheit der Anwesenden auf den Heimweg. Nach 20 Minuten betreten etwa 40 traditionell gekleidete Männer den kleinen Raum. Man stellt sich in zwei Reihen einander gegenüber auf. Das Licht wird gelöscht und es beginnt der intensive Teil des Dhikr, das Erinnern Gottes und seines Namens.
Überwacht vom Schech adh Dhikr, dem Leiter des Dhikr, stimmen die Dhakirun den Gottesnamen an, erst langsam, dann immer schneller werdend, bis schließlich ein neuer Zyklus beginnt. Kurz vor dem Morgengebet wird das Licht wieder angemacht und ein kleines Mahl aus Brot, Oliven und Wasser, gesegnet durch verschiedene Bittgebete, beschließt den Dhikr.

Ich habe bewusst diesen Donnerstagabend ausführlicher beschrieben, da er in meinen Augen eines der wenigen Zeugnisse dessen darstellt, was einmal Sufismus gewesen ist. Solche Dinge scheinen immer seltener zu werden. Die Gründe hierfür sind verschieden, dennoch muss ich betonen, das die Zusammenkünfte der Shadhiliyya auf dem Friedhof weiterhin eine zentrale Stellung im religiösen Leben der Hauptstadt einnehmen. Nicht umsonst genießen sie die Unterstützung der tunesischen Regierung und die besseren Kreise geben sich dort ein Stelldichein. Neben den Sommerdonnerstagen trifft man sich das ganze Jahr über noch Freitag abends und Samstag morgens zur Rezitation der Ahzab und des Dhikr.

Der Sufismus scheint mir in Tunesien trotz den Zwängen der modernen Gesellschaft weiterhin sehr stark, vielleicht auch dank eines gewissen Wohlwollens von staatlicher Seite her, wo man die Turuq wohl als potentielles Gegenwicht zu der islamistischen Bewegung sieht. In der großen Zitouna Moschee im Herzen des Souk von Tunis, hört man die Tijanis ihren Dhikr rezitieren, und Mittwoch morgens findet am Grab von Sidi Mahrez, dem Stadtpatron, ein kleiner Shadhiliyya Dhikr statt. Die Veranstaltungen der Aissawiyya Tariqah ziehen hunderte von Schaulustigen nach Sidi Bou Said, jenem malerischen Ort, von dem man einen einzigartigen Blick auf die Bucht von Tunis hat und der schon Paul Klee faszinierte.

In den letzten Jahren hat sich auch eine neue Tariqah überall in Tunesien ausgebreitet. Ihre Wurzeln liegen in algerischen Alawiyya, zu deren Erben ebenfalls die Tariqah As Safinah gehört. Es ist die Qasimiyya, die vom Wohnsitz ihres Schech Sidi bel Qassem in Rdeif am Rande der Sahara aus, im ganzen Land auf zugegeben ein wenig aggressive Art Mitglieder rekrutiert. Ich bin bereits im letzten Jahr mit dieser Tariqah in Berührung gekommen und hatte dieses Jahr die Ehre mit dem Muqaddam der Zawiya in Tunis Sidi Jalal, seinen Schech in der Wüste besuchen zu fahren.

Dort traf ich auch zwei Franzosen, die mir nicht ohne Stolz erzählten, dass man auch in Frankreich und Italien vertreten sei. Ein Faqir spielt sogar in der Bundesliga... Die Qassimis haben mich vor allem durch ihre Strenge und Ernsthaftigkeit beeindruckt, so verbringen sie einen Grossteil ihrer freien Zeit im Gebet und im Dhikr, ohne jedoch ihre beruflichen und familiären Pflichten zu vernachlässigen. Ebenso werden Frauen in derselben Weise initiiert wie Männer, wobei strikte Geschlechtertrennung herrscht. Schech Bel Qassem ist ein sehr charismatischer Mensch, der sich in der Tradition der großen Lehrer wie z.B. Schech al Alawi sieht. Besonderer Wert wird auf die Einhaltung der Sunnah gelegt. In Rdeif hatte ich den Eindruck, dass man versucht, das Leben der ersten Muslimgemeinde in Medinah so genau wie möglich nachzuahmen. Inwieweit eine solche Sufismus-Vorstellung den Erfordernissen unserer Zeit gerecht wird, vermag ich allerdings nicht zu beurteilen. Getrübt wird das Bild auch durch ein ausgeprägtes Elitedenken, das teilweise zumindest schon an Sektentum grenzt. Dies ändert jedoch nichts daran, das die Fuqara’ sich mir gegenüber wie Engel verhalten haben und die Aufrichtigkeit ihres Bemühen sich Gott zu nähern in keiner Weise zu bezweifeln ist.

Trotz des hohen Stellenwertes den Religion und Tradition noch genießen (oder vielleicht gerade deswegen) ist Tunesien ein Land, das den Blick in die Zukunft gerichtet hat und wie alle Länder des Maghreb den Veränderungen und Umwälzungen unseres „globalen“ Zeitalters unterliegt. So konnte ich mich mit Unternehmern unterhalten, die versuchen das Land auf die bevorstehende Öffnung ihres Marktes für die EU vorzubereiten, was in den nächsten Jahren geschehen soll. Der Ideenreichtum und Wille etwas zu schaffen ist hier beeindruckend und zerlegt das alberne Vorurteil der arabischen Fatalität.

Neben dieser fortschrittlichen Seite, die sich in glitzernden Shoppingzentren in der Neustadt zu verewigen sucht, behält die Armut trotz allem ihr entstellendes Gesicht. Straßenkinder, die im Müll nach Verwertbaren suchen, Menschen, die nicht wissen, was sie abends essen werden, eine Frau, die aus Geldmangel die für sie notwendigen Medikamente nur alle zwei Tage nehmen kann und schließlich eine Jugend, der die Arbeitslosigkeit jede Perspektive zu rauben scheint, die ihre Zeit im Café totschlägt, während der europäische Tourist seine neue Digitalkamera spazieren trägt. Wie kann man da nicht an die Emigration in den Westen denken? Doch auch das Improvisationstalent der Tunesier ist immer wieder beeindruckend. Statt sich lakonisch seinem Schicksal zu ergeben, wird nach Lösungen gesucht und werden diese auch meistens gefunden. Die Armut schafft so eine Solidarität, die das Überleben sichert, jedoch gleichzeitig die Entwicklung des Landes behindert, da sie die Rituale der Vetternwirtschaft verewigt.

Die vielen Begegnungen und Gespräche haben mir ein sehr kontrastreiches Bild der tunesischen Gesellschaft vermittelt. Auf der einen Seite die Tradition, eine Volkskultur, deren Bilderreichtum alle Farben des Mittelmeers widerspiegelt, auf der anderen Seite die arabisierten Symbole des globalen Dorfs. Im Mittelpunkt stand und steht für mich das tunesische Volk, mit seinen arabischen, berberischen, italienischen, maltesischen und französischen Wurzeln, ein Symbol für das Mittelmeer als Brücke. Seine Gastfreundschaft erlaubte mir tiefe Einblicke in seine Lebensrealität zu gewinnen, in seine Nöte, in seine Freude, in seine Träume, seine Pläne, seine Symbole und seinen Glauben. Für all dies danke ich ihm aus tiefsten Herzen.


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Tariqah As-Safinah - 1424 / 2005